My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
ihn eintreten und zog sich diskret zurück. Sie staunte, wie wenig jetzt von dem arroganten, oberflächlichen und leichtlebigen Mann, der in jeder Frau ein willkommenes Opfer seiner Begierden sah, übriggeblieben war.
Statt dessen war offenkundig geworden, daß er viele gute Eigenschaften hatte.
Sie hätte ihn gern zum Freund gehabt, doch er schien keinen Wert auf die Freundschaft von Damen zu legen, die sich in ihn verliebten.
Sie kehrte in den Salon zurück und hörte nach einer Weile, daß der Onkel Mr.
Brooke und den Vikar verabschiedete und sich wieder in die Bibliothek begab.
Sie beschloß, sich zu Bett zu legen, und ging die Treppe hinauf.
Flora hörte sie kommen und rief ihr durch die halboffene Tür zu: „Olivia, komm herein. Ich möchte mit dir reden.“
Olivia folgte der Bitte. Das Zimmer war dunkel, und Flora stand neben dem Bett.
„Was wollte Mr. Brooke hier?“ fragte sie nervös. „Warum war er bei uns?“
„Hast du auf dem Treppenpodest gelauscht? Ich dachte, du seist so müde, daß du die Augen nicht mehr offenhalten kannst.“
„Ich habe Mr. Brookes Stimme gehört. War er bei Papa?“
„Nein, er suchte den Vikar.“ Jäh kam Olivia ein Gedanke, und mißtrauisch erkundigte sie sich: „Hast du eine Ahnung, wo Walter Cottle heute nachmittag war?“
„Warum sollte ich? Bei den Osgoods war er jedenfalls nicht, falls du das meinst.“ Olivia fand, die Cousine habe geklungen, als müsse sie sich gegen einen Vorwurf verteidigen. „Hatte er vielleicht Streit mit Miss Osgood?“ wollte sie wissen.
„Nun, so kann man es nicht nennen. Er ist eifersüchtig auf Mr. Forester.“ Das erklärte vielleicht, warum er betrunken gewesen war.
„Warum interessiert es dich, wo er war und ob er sich mit Madeleine gezankt hat?“ Gespannt schaute Flora die Cousine an.
Olivia sah keinen Grund, ihr nicht zu berichten, worum es ging, und sagte ernst:
„Ich möchte nicht, daß du das, was ich dir jetzt anvertraue, irgend jemandem weitererzählst, solange nicht die ganze Stadt davon weiß.“ Flora war entsetzt, als sie erfuhr, warum Mr. Brooke im Haus gewesen war.
„Hoffentlich sind Mr. Chapmans Verletzungen nicht so schlimm!“ murmelte sie verstört. „Vielleicht ist Walter gar nicht an dem Unfall schuld? Schließlich war Mr.
Brooke ja nicht dabei, als es passierte.“
9. KAPITEL
Vormittags wußte die ganze Stadt, was am Abend zuvor auf der Straße von Brantisford geschehen war. Es hieß, der Uhrmacher läge auf dem Sterbebett und der Sohn des Vikars sei schuld an dem Unfall.
„Auf dem Sterbebett?“ wiederholte Flora entsetzt, nachdem Olivia beim Frühstück berichtet hatte, was die Dienstboten sich erzählten.
„Ich halte es für äußerst unwahrscheinlich, daß er stirbt“, warf James Fenimore ein.
Flora war nicht beruhigt und verkündete, sobald man sich vom Tisch erhob: „Ich gehe zu Miss Osgood. Ich muß mit ihr reden.“
„Ich begleite dich“, sagte Olivia.
„Nein, das ist nicht nötig“, lehnte Flora das Angebot schroff ab.
Olivia bestand jedoch darauf, mit der Cousine zu gehen. Sie ahnte, daß an der ganzen Sache etwas nicht stimmte. Auf dem Weg zu den Osgoods begegneten sie Madeleines Mutter.
Auf die Bemerkung, sie wollten zu ihrer Tochter, antwortete Alice: „Ich habe sie angewiesen, im Bett zu bleiben. Das arme Kind hat die halbe Nacht nicht geschlafen und fühlt sich gar nicht wohl.“
Flora und Olivia äußerten ihr Mitgefühl und ließen Madeleine gute Besserung wünschen. „Haben Sie schon von Mr. Chapmans Unfall gehört, Madam?“ fragte Flora neugierig. „Weiß Madeleine, daß der Uhrmacher überfahren wurde?“
„Ich habe es mir zur Regel gemacht, nie auf Klatsch zu achten!“ sagte Alice in herablassendem Ton. „Glaub nur nicht, Madeleine würde sich grämen, weil der junge Mr. Cottle in Schwierigkeiten ist.“
Belustigt fragte sich Olivia, woher Mrs. Osgood wußte, daß der Sohn des Vikars in den Unfall verwickelt war, wenn sie nichts für Gerüchte übrig hatte. Sie und Flora verabschiedeten sich von Mrs. Osgood, überquerten die Parade Street und die angrenzende Wiese und schlenderten in die hinter dem „Admiral Nelson“ gelegene Trafalgar Street. Die Jalousien von Mr. Chapmans Uhrmacherladen waren geschlossen. Olivia wollte bereits umkehren, als die Tür geöffnet wurde und der Doktor mit der Frau des Verunglückten herauskam. Mrs. Chapman sah blaß und abgespannt aus.
„Ich treffe dich in der Leihbücherei“, sagte Flora rasch und hastete
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