My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
davon.
Nora Chapman bemerkte Miss Fenimore, lächelte gequält und sagte leise: „Ihr Kleid ist fertig, Madam. Bitte, treten Sie ein.“
„Ich möchte nicht ungelegen kommen“, erwiderte Olivia höflich.
Nora bestand darauf, sie in das Atelier zu führen, wo die neue fliederfarbene Ballrobe in einer Schutzhülle aus Leinen an einem Haken hing. „Ich kann die Arbeit jetzt nicht ruhen lassen“, erklärte sie bekümmert. „Nicht unter diesen Umständen.“
Olivia warf einen Blick auf die vielen unvollendeten Kleider und nickte.
„Solange mein Mann krank ist, müssen seine Kunden leider warten“, fuhr Nora leise
fort.
„Aber
der
Arzt
meinte,
Peter
habe
nur
eine
schwere
Gehirnerschütterung. Wir hoffen, daß er keine Lungenentzündung bekommt.
Schließlich hat er ja eine ganze Weile in der Kälte gelegen. Er war bei Mr. Smith, um sich die Standuhr anzusehen, die nicht mehr richtig schlug. Dann kam plötzlich Mr. Brooke und berichtete mir, was sich ereignet hatte. Hätte er meinen Mann nicht gefunden, wäre Peter gewiß gestorben. Mr. Brooke ist die Güte selbst und hat mir gesagt, ich solle mir um die Miete für das Haus keine Gedanken machen. Erst müsse Peter wieder gesund sein. Wie viele Hausbesitzer wären so entgegenkommend? Aber Mr. Brooke ist wirklich ein herzensguter Mensch.“
„Ja“, stimmte Olivia zu und war unwillkürlich stolz auf ihn. Sie drückte die Hoffnung aus, Mr. Chapman möge rasch genesen, verabschiedete sich und ging zur Bibliothek. Sie erschrak, als unversehens Walter Cottle aus der Vorhalle des Kurhauses auf sie zutrat.
„Kann ich Sie sprechen, Madam?“ fragte er drängend.
Wahrscheinlich hatte er von dort den Eingang des Uhrmachergeschäftes beobachtet. Sie blieb stehen und nickte.
„Ich habe gesehen, daß Sie aus Mr. Chapmans Laden gekommen sind“, fuhr er in gedämpftem Ton fort. „Ich würde gern wissen, wie es dem Uhrmacher geht.
Eigentlich sollte ich selbst mich erkundigen, aber ich habe nicht den Mut. Ich bin sicher, seine Frau würde mich sofort abweisen.“
Eigenartigerweise hatte Mrs. Chapman kein Wort über den Sohn des Vikars verloren. „Wie
sie mir berichtete, hat
ihr Gatte nur eine schwere
Gehirnerschütterung, aber keine Brüche erlitten“, antwortete Olivia.
„Gott sei Dank!“ murmelte Walter erleichtert. „Ich bin mir wie ein Mörder vorgekommen. Selbst wenn ich jetzt höre, daß er nicht sterben wird, kann ich mich doch nicht von der Schuld freisprechen, daß ich ihn fast umgebracht hätte.
Das werde ich mir nie verzeihen.“
Am liebsten hätte Olivia ihn getröstet, doch unter den gegebenen Umständen suchte sie vergebens nach den richtigen Worten.
„Das schlimme ist, daß ich mich nicht einmal erinnere, Mr. Chapman überfahren zu haben“, fuhr Walter bedrückt fort.
„Ich nehme an, Ihr Vater ist außer sich.“
„Wie man es nimmt“, erwiderte Walter. „Er sagte, ich hätte ihn sehr enttäuscht.
Und meine Mutter weint die ganze Zeit. Haben Flora und Madeleine schon Kenntnis von dem Unfall?“
„Meine Cousine war erschüttert“, antwortete Olivia. „Mit Miss Osgood habe ich noch nicht gesprochen.“ Sie unterließ es, Mr. Cottle zu erzählen, daß Madeleine das Bett hüte, weil sie sein Gemüt nicht noch mehr belasten wollte. Sie verabschiedete sich von ihm und betrat die Leihbücherei, wo sie Flora im Gespräch mit Mr. Channing sah. Die beiden machten ernste Gesichter, und sie nahm an, daß sie sich über den Unfall unterhielten.
„Mr. Forester behauptet, alles sei erfundener Unsinn“, sagte Bernard. „Er würde es mir sehr übelnehmen, wenn ich ihm Ärger machte.“
„Was soll erfundener Unsinn sein?“ wollte Olivia wissen.
Mit schuldbewußter Miene drehte Bernard sich zu ihr um, zögerte einen Moment und antwortete dann: „Ach, nichts Besonderes. Ich bin eine dumme Wette eingegangen, mehr nicht.“
Ein plötzlicher Argwohn veranlaßte Olivia zu fragen: „Hat die Sache etwas mit Walter Cottle zu tun?“
„Nein. Wie kommen Sie darauf?“
„Ich habe ihn soeben getroffen und wüßte gern, warum er gestern nachmittag in betrunkenem Zustand die Straße von Brantisford entlanggefahren ist. Ich vermute, er hatte Liebeskummer. Es tut mir leid, mich abfällig über Mr. Forester zu äußern, aber ich werde froh sein, wenn er Parmouth verlassen hat.“
„Ich auch“, gestand Bernard.
Olivia war überrascht. Mit diesem Bekenntnis hatte sie nicht gerechnet.
Ängstlich erkundigte Flora sich nach Mr. Chapmans
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