My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
jetzt Angst, daß Mr. Walker ihn nicht einstellt, weil wir alle euch so getäuscht haben.“
„So engstirnig kann Mr. Walker doch nicht sein“, entgegnete Olivia kopfschüttelnd. „Nur weil Mr. Channing geschwindelt hat, heißt das noch lange nicht, daß er kein guter Architekt sein kann!“
„Er überlegt, ob er Mr. Brooke bitten soll, bei Mr. Walker ein gutes Wort für ihn einzulegen. Mr. Brooke war sehr wütend, nicht wahr? Aber ich glaube, in erster Linie auf Mr. Forester.“
„Ja“, bestätigte Olivia. „Er hat ihn niedergeschlagen.“
„Wirklich? Das freut mich. Ich mag Mr. Brooke.“
Olivia mochte ihn auch, war indes davon überzeugt, daß seine lasterhafte Lebensweise dem Patensohn das schlechte Beispiel gegeben hatte.
10. KAPITEL
Miss Osgood schlief noch, als Olivia morgens in das Zimmer schaute. In der Absicht, die Ereignisse des vergangenen Abends mit dem Onkel zu besprechen, ging Olivia in das Speisezimmer.
Beim Frühstück war die Stimmung sehr gedrückt. James war mürrisch und schweigsam und schnitt das Thema, das Olivia auf der Seele brannte, erst an, nachdem die Tochter den Raum verlassen hatte. „Was machen wir jetzt mit Miss Osgood? Sie kann doch nicht ein Leben lang bei uns bleiben!“
„Natürlich nicht“, antwortete Olivia. „Bestimmt werden ihre Eltern sie irgendwann abholen.“
„Darauf kann man sich nicht verlassen“, entgegnete James grimmig.
„Es tut mir leid, daß ich nicht die Geistesgegenwart hatte, zu ahnen, was Flora und Miss Osgood beabsichtigten“, sagte Olivia beklommen. „Ich habe dich und Tante Hester enttäuscht, weil ich nicht genügend auf Flora achtgab.“
„Das ist Unsinn, meine Liebe! Selbst wenn meine Gattin sich hier befunden hätte, wäre trotzdem alles so gekommen. Flora wird unter der Sache nicht zu leiden haben, vorausgesetzt, die Klatschmäuler bringen sie nicht zu sehr damit in Verbindung, daß Miss Osgood bei ihren Eltern in Ungnade gefallen ist. Ich will wirklich nicht hartherzig sein, aber ewig kann sie nicht bei uns bleiben. Es ist keinesfalls sicher, daß sich das vertuschen läßt, was in Dalney Castle geschah.
Mrs. Walker ist zwar keine Klatschtante, indes nicht fähig, die Zunge im Zaum zu halten. Selbst wenn sie sich diesmal nicht verplappern sollte, führt die Tatsache, daß Miss Osgood von ihren Eltern verstoßen wurde, doch kurz über lang zu Gerüchten. Und dann ist es für Miss Osgood gewiß nicht angenehm, in Parmouth zusein.“
Olivia wußte, der Onkel hatte recht.
„Ich werde etwas tun“, fuhr er fort, „an das bislang noch niemand gedacht hat.
Ich fahre zum Pfarrhaus und berichte dem Vikar und seiner Familie, daß sein Sohn den Unfall nicht verursacht hat. Darüber werden die Cottles sich gewiß freuen, und Walter wird Miss Osgood dankbar sein, daß sie die Wahrheit gesagt hat.“
Seit Madeleines Geständnis beim Dinner hatte Olivia nicht mehr an Walter Cottle und Mr. Chapman gedacht, die ebenfalls unter den Folgen des fatalen Ausfluges nach Dalney Castle leiden mußten.
James verließ das Speisezimmer und fuhr zu den Cottles.
Olivia begab sich in die erste Etage, um nachzusehen, ob Miss Osgood inzwischen aufgewacht sei. Nachdem sie die Tür aufgemacht hatte, erlebte sie eine Überraschung. Der Raum war leer. Im Nebenzimmer hörte sie das Hausmädchen und rief laut: „Hannah, wo ist Miss Osgood?“
Hannah kam in den Korridor. „Ist sie nicht bei Ihnen, Madam?“ wunderte sie sich.
„Sie bat mich, ihr ein Tageskleid aus Miss Floras Bestand zu geben. Ich habe ihr eins geholt, und dann hat sie rasch Morgentoilette gemacht und ist nach unten gegangen.“
Olivia lief die Treppe hinunter und schaute erst im Speisezimmer und dann im Salon nach. Miss Osgood war nirgendwo zu sehen. Sie befragte die Cousine, die im Salon die Blumen goß, und die Dienstboten, doch niemand hatte Miss Osgood zu Gesicht bekommen.
Es gab nur eine Möglichkeit, wohin sie gegangen sein konnte. Ungeachtet der Befürchtungen, die Adoptiveltern würden sie nicht mehr bei sich aufnehmen, war sie gewiß in der Hoffnung heimgekehrt, sie würden ihr verzeihen, nachdem sie den ersten Schock über den Fehltritt verwunden hatten. Natürlich war es das beste, wenn sie wieder bei den Osgoods lebte, doch Olivia war nicht davon überzeugt, daß der Bankier und seine Frau dem Mädchen vergeben würden. Mrs.
Osgood war bestimmt nicht fähig, den Haß und den Abscheu auf Madeleine so schnell zu verwinden. Und für Madeleine mußte es furchtbar sein,
Weitere Kostenlose Bücher