My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
sich noch einmal die schlimmsten Schmähungen anhören zu müssen und sich wieder vor die Tür gesetzt zu sehen.
Das durfte nicht geschehen. Rasch kleidete Olivia sich zum Ausgehen an und hastete aus dem Haus, um die Osgoods aufzusuchen.
Es war ein trüber Morgen, und vom Meer her blies ein rauher Wind. Das Wasser hatte eine bleierne Farbe, und die Wellen tosten an den Strand.
Olivia hielt sich im Schutz der Häuser und eilte die zum Haus des Bankiers führende Straße hinauf. Miss Osgood war nicht zu sehen. Nur ein Mann näherte sich, und nach einem Moment erkannte Olivia Mr. Brooke. In Parmouth verrichtete er seine Angelegenheiten stets zu Fuß, da er meinte, es sei die Mühe nicht wert, die kurze Entfernung mit der Kutsche zurückzulegen. Er mußte bei den Osgoods gewesen sein, denn nur deren Haus stand am Ende der Straße.
Olivia war so in Sorge um Miss Osgood, daß sie nicht das Unbehagen verspürte, das sie sonst bei seinem Anblick überkam, und fragte eifrig, als sie sich begegneten: „Haben Sie Miss Osgood gesehen, Sir? Ist sie wieder bei ihren Eltern?“
„Nein“, antwortete er. „Dort ist sie nicht. Ich dachte, sie sei noch bei Ihnen.“
„Sie hat bei uns genächtigt, ist jedoch verschwunden, ohne jemandem mitzuteilen, wohin sie wollte. Ich nahm an, sie sei heimgegangen. Sie waren doch bei den Osgoods“, fügte Olivia hinzu und schaute Mr. Brooke hoffnungsvoll an. „Haben sie sich eines anderen besonnen?“
„Ich hatte nicht den Eindruck und befürchte, sie werden auf ihrem sturen Standpunkt beharren. Ich habe kein Verständnis für solche Leute. Es ist begreifbar, daß sie schockiert und fassungslos sind, aber deshalb setzt man einen Menschen doch nicht auf die Straße! Sie wollen nichts mehr mit Miss Osgood zu tun haben und wiederholten ständig, sie sei nicht ihr leibliches Kind. Als ob das eine Entschuldigung für ihr borniertes Verhalten wäre! Miss Osgood hat zehn Jahre bei ihnen gelebt. Sie haben sie an Kindes Statt angenommen und waren für sie Vater und Mutter. Bedeutet das denn gar nichts?“ Erschüttert schüttelte Tom den Kopf. „Wohin könnte sie gegangen sein? Bei Mrs. Channing ist sie bestimmt nicht, da Lionel sich noch im Haus befindet. Ich kann mir nicht vorstellen, wo sie sein könnte.“
„Ich habe mir auch schon das Hirn zermartert“, erwiderte Olivia. „Es ist mein Fehler, daß sie unbemerkt verschwinden konnte. Ich war der Annahme, sie schliefe noch. Wahrscheinlich hat sie nur so getan.“ Olivia seufzte. „Ich hätte ahnen müssen, was sie und Flora beabsichtigten. Sie, Sir, haben mir einmal geraten, mehr auf Miss Osgood zu achten, und Sie hatten recht. Ich bin dafür verantwortlich, daß sie und meine Cousine heimlich nach Dalney Castle gefahren sind.“
„Nun, Ihnen kann ich fürwahr keinen Vorwurf machen, Madam“, entgegnete Tom ruhig. „Schließlich bin ich derjenige, der die Schuld an der Entwicklung der Dinge trägt. Sie haben mir deutlich genug zu verstehen gegeben, was Sie von meinem Lebenswandel halten, und nun, da ich feststellen mußte, daß mein Patensohn in meine Fußstapfen tritt, muß ich Ihnen zustimmen.“ Thomas Brooke tat Olivia leid. „Mr. Forester ist nicht wie Sie“, widersprach sie rasch. „Sie hätten Miss Osgood bestimmt nicht betrunken gemacht.“
„Danke“, sagte Tom und lächelte flüchtig. „Aber ich hätte die Last der Verantwortung für die jungen Damen nicht Ihnen allein überlassen dürfen.
Wahrscheinlich können Sie sich denken, warum ich das tat.“ Olivia konnte es sich vorstellen, versuchte jedoch, ihn in Schutz zu nehmen, und erwiderte leise: „Mädchen lassen sich in einer Weise beaufsichtigen, die für junge Männer unannehmbar ist.“
„Das ist sehr milde ausgedrückt. Bestimmt ist Ihnen klar, Madam, warum ich mich davor gescheut habe, meinen Patensohn zur Ordnung zu rufen. Ich bin nicht in der Lage, ihm Moralpredigten zu halten, und das weiß er genau. Sie haben ja gehört, was er mir gestern an den Kopf warf.“ In Gedanken hörte Olivia Mr. Forester äußern, sein Patenonkel habe ja nie eine seiner Mätressen geheiratet. Verlegen wandte sie den Blick ab und schaute zum Strand hinüber. Die Flut war gestiegen, und nur zwei Gestalten waren zu erkennen. Ein Fischer machte sich an seinem Boot zu schaffen, und eine Frau ging langsam zum Wasser. Sie trug einen Schal, dessen leuchtendes Muster Olivia bekannt vorkam. Die Cousine besaß ein Schultertuch, das diesem sehr ähnlich war. Jäh begriff Olivia, wer die
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