Myrddin
Norden aufhielten. In manch hartem Winter hatte er schon Island heimgesucht, aber soweit südlich war er noch nicht gewandert. Spitzbergen hatte er weit hinter sich im Norden gelassen und sich dann auf dem Eis verirrt – auf dem Weg in den Süden –, zu einem offenen Wasser oder wenigstens zu einem Luftloch in der festen Eisdecke. Seine feine Nase sowie sein feines Gespür verhießen ihm dann leichte Beute, als er die Witterung der sieben Gefährten aufgenommen hatte. Obwohl sie sich schneller als er zu bewegen schienen, verfolgte er sie unnachgiebig und hoffte, daß seine so bewährte Ausdauer belohnt würde. Er war kein schneller, aber ein guter Läufer. Oftmals hatte er die Windrichtung geprüft. Zuerst waren sie ihm genau entgegengelaufen, dann hatten sie kehrtgemacht und waren in den Süden gewandert. Gewittert haben konnten sie ihn nicht. Und so war er ihnen den ganzen Tag hinterhergetrottet, sich stets westlich von ihnen haltend. Er hatte seine kräftigen Klauen in das Eis geschlagen. Schritt für Schritt war er seinem Ziel in einer mürrisch üblen Laune näher gekommen, da es ihm nicht gefiel, daß er so weit laufen mußte.
Er hatte die Witterung von Wolf, Mensch und Hirsch in der Nase . Wölfe waren für ihn feige Hunde, da sie ihm nichts anhaben konnten, solange sie sich nicht in seine feinsinnige Nase verbissen. Und das war noch nicht geschehen. Er hatte krummessergleiche Klauen, mit denen er bisher ganz andere Feinde das Fürchten gelehrt hatte. Und so gingen sich Eisbären und Wölfe gewöhnlich aus dem Weg.
Menschen hingegen waren gefährliche Gegner, da sie tückische Waffen besaßen, die über große Entfernung wirken konnten. Ohne diese Waffen jedoch waren sie harmlose Wachteln, die seinen Appetit nicht sonderlich anregten. Menschenfleisch schmeckte widerlich süß und war nicht fett genug.
Und Hirsche …? Hirsche waren äußerst seltene, schmackhafte Beute, wenn man sich im arktischen Süden befand und keine Robbe erjagen konnte.
Dieses schreckliche Untier hatte sich in jener Nacht seit Stunden an die Reisegefährten um Merlin herangepirscht. Er nutzte seine Erfahrung als berüchtigter Jäger. Gegen den Wind hatte sich der Eisbär an sie herangemacht, war auf allen vier Tatzen gekrochen, hatte wieder und wieder Ausschau gehalten, seine Nase zur Witterung vorsichtig in die Luft gestreckt und war ihnen näher gekommen. Er wollte durch keine Unvorsichtigkeit seine Beute vorwarnen oder gar vertreiben. Den Menschen hatte er gehen sehen und bei ihm keine der ihm bekannten, so gefährlichen Waffen entdeckt. So brauchte er sich nur noch vor der ebenfalls vorzüglichen Nase der Wölfe in acht zu nehmen, die den Hirsch hätten frühzeitig warnen können. Die Gesellschaft von Tieren und Mensch kam ihm nicht komisch vor und er wußte auch nicht, daß Wölfe und Hirsche eigentlich keine Freunde waren.
Einen Wolf sah er zwischen sich selbst und der Gruppe schlafen – ein leichtes Spiel für ihn, den Furchtbaren. Dann sah er vier weitere Wölfe um seine prächtige Beute als Wächter liegen – um seinen Hirsch geschart, den er erjagen wollte. Er schätzte die Entfernung des Menschen zu dem Boot, das er als Schattenriß erkennen konnte, und meinte, wenn dieser Mensch Waffen bei sich hätte, müßten sie im Boot sein. Doch bevor sich der Mensch noch besinnen könnte, würde er ihm den Weg abschneiden. So waren die Gedanken des Eisbären. Es müßte nur alles schnell genug für ihn gehen.
Der erste Wolf, der schlafend kaum noch fünf Längen vor ihm lag, wäre für ihn mit einem einzigen Prankenhieb zu erledigen. Bevor die anderen ihn angreifen könnten, wäre er schon über sie gekommen und hätte gleich zwei von ihnen erschlagen. Die anderen würden sich dann winselnd davonstehlen. Den Menschen wollte er nicht aus den Augen verlieren. Doch Menschen standen gewöhnlich wie zu Eis erstarrt, hatten sie keine Waffen und begegneten sie ihm, dem Großen, dem Gewaltigen, dem Furchterregenden, dem Herrschenden der Eismeere. Der Hirsch könnte für ihn ein schwieriger Brocken sein, würde er ihn nicht gleich richtig erwischen. Doch sicher war er vom Liegen in der Kälte steif und würde nicht so schnell auf die Läufe kommen. So plante der Eisbär seinen Überfall, robbte noch ein wenig dichter an Carus heran, nahm die letzte Witterung auf, hob vorsichtig den Kopf, sah den Menschen unverändert auf dem Eis sitzen, die Wölfe um den Hirsch liegen, der ahnungslos döste … und sprang dann mit brüllendem
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