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Mysterium

Mysterium

Titel: Mysterium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ambrose
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zuliebe erzählte. Es musste am Fieber gelegen haben. Das war die offensichtliche und einzige Erklärung.
    Eine Schwester kam ins Zimmer, um noch einmal Julias Temperatur zu messen. Tom wartete besorgt, aber die Temperatur war normal. Das Fieber war nur kurz gewesen, und Julia zeigte keinerlei Anzeichen, dass es wiederkam. Ihre Stimmung wurde zunehmend besser. Sie sagte sogar, sie habe Hunger. Tom überließ es der Schwester, ihr etwas zu essen zu holen, und ging ins Bad.
    Während er sich die Hände wusch, betrachtete er sein Gesicht im Spiegel. Es stimmte, was seine Freunde ihm gesagt hatten: Ein Kind veränderte einen mehr als alles andere. Alles wurde auf den zweiten Platz verwiesen hinter diesem winzigen, zerbrechlichen Leben, das man in die Welt gesetzt hatte und für das man sich selbst ohne Zögern opfern würde, um es zu beschützen.
    War es nur die Macht der Gene? Eine blinde Kraft, die das Überleben der Jungen und Fortpflanzungsfähigen sicherte und die Alten und Verbrauchten an die zweite Stelle rückte? Oder war da noch etwas anderes im Spiel? Waren Liebe, Fürsorge und Zärtlichkeit mehr als nur Werkzeuge, die die Evolution entwickelt hatte, damit die Dinge sich immerzu voranbewegten?
    War das überhaupt wichtig? Tom wusste nur, dass er sehr wenig wusste. Er war nicht religiös, jedenfalls nicht über die Akzeptanz einer »höheren Macht« hinaus, die Teil des zwölfstufigen Programms war, das ihm vor fünf Jahren zur Nüchternheit verholfen hatte. Aber er hatte das sichere Gefühl, dass das Leben mehr war als nur ein chemischer Prozess. Seit der Geburt ihrer Tochter waren Tom und Clare auf seltsame und unerklärliche Art davon überzeugt, dass noch mehr passierte.
    Als Tom wieder das Zimmer betrat, hörte er als Erstes das fröhliche Lachen der Krankenschwester. »Du veräppelst mich«, sagte sie. »Du heißt nicht Melanie. Du heißt Julia.«
    »Melanie!«
    Julia saß im Bett und hatte ihr Lieblingsstofftier im Arm. Sie strahlte übers ganze Gesicht.
    »Na gut, wenn du willst, nenn ich dich Melanie. Aber ich weiß, dass du in Wirklichkeit Julia heißt.«
    »Melanie!«, rief Julia ausgelassen.
    »Guck mal, dein Daddy ist da. Frag ihn doch mal, wie du heißt.«
    Julia hatte Tom nicht hereinkommen hören. Nun drehte sie den Kopf und blickte ihn beinahe schuldbewusst an. In diesem Augenblick begriff er, wovon Clare gesprochen hatte: Plötzlich stand irgendetwas zwischen ihnen, zwischen ihm und seiner Tochter, etwas Fremdes. Es war ein merkwürdiges und beunruhigendes Gefühl.
    »Wer ist Melanie?«, fragte er und tat so, als wollte er bei dem Spiel mitmachen. »Ich sehe hier keinen, der Melanie heißt.«
    Julias Gesicht entspannte sich. Sie lächelte scheu, wiegte ihr Stofftier, ein Äffchen, in den Armen und schwieg.
    »Ist das Melanie?«, fragte Tom und zeigte auf den Affen, während er sich auf die Bettkante setzte.
    Julia schüttelte den Kopf und drückte ihr Gesicht an das Spielzeug, als wollte sie sich vor den Fragen verstecken.
    »Ich komme in ein paar Minuten mit deinem Tee«, sagte die Schwester fröhlich. »Kann ich Ihnen auch etwas mitbringen, Mr. Freeman?«
    »Nein«, antwortete er abwesend. »Danke sehr.«
    Die Krankenschwester ging hinaus. Für eine Weile sagte Tom nichts. Dann fragte er Julia: »Warum hast du gesagt, dass du Melanie heißt?« Er achtete immer noch auf einen beiläufigen Tonfall, als wolle er sie bloß darum bitten, ihm die Regeln des Spiels zu erklären, damit er sich daran beteiligen konnte.
    Sie antwortete nicht, schüttelte wieder nur den Kopf. Die ganze Zeit vergrub sie ihr Gesicht im Fell des kleinen Affen, den sie nun fest an sich drückte.
    »Kennst du jemanden, der Melanie heißt?«, fragte Tom und strich ihr dabei sanft übers Haar.
    Sie vergrub weiterhin ihr Gesicht im Fell des Stofftiers, als hätte sie Angst, ihren Vater anzusehen. Er wusste, dass er nicht zu sehr drängen durfte. Dennoch musste er irgendeine Antwort bekommen. Er konnte es nicht einfach auf sich beruhen lassen.
    »War das ein Spiel?«
    Sie nickte heftig, als würde sie allem beipflichten, nur um dieses Gespräch zu beenden. Und er hatte ihr diesen perfekten Ausweg geliefert: Alles nur ein Spiel .
    »Sieh mich an, Schatz«, bat Tom.
    Sie hob den Kopf. Ihr Gesichtsausdruck war ernst und ein wenig argwöhnisch.
    »Es ist in Ordnung, ich bin dir nicht böse. Ich möchte nur wissen, wer Melanie ist.«
    »Melanie ist weg«, sagte sie so leise, dass es beinahe ein Flüstern war. »Melanie ist jetzt

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