Mysterium
weg.«
9
Dr. Bella Warne saß hinter ihrem Schreibtisch und betrachtete das Paar gedankenvoll. »Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Kind in der Fantasie einen Freund hat«, sagte sie. »Besonders ein Einzelkind. Tatsächlich ist das sogar ganz normal.«
»Aber es ist keine eingebildete Freundin, Bella«, erwiderte Clare, die es nicht zulassen wollte, dass ihre Sorgen so einfach abgetan wurden. »Julia sagt, dass sie Melanie ist . Es ist eher so wie eine multiple Persönlichkeit.«
Dr. Warne dachte einen Augenblick darüber nach. Sie war eine grobknochige Frau mit schwarzem Haar und ernster Miene. Ihr Blick, der durchdringend oder freundlich sein konnte – je nachdem, wie die Situation es erforderte –, ließ auf einen scharfen Verstand schließen.
»Okay«, sagte sie, »ich gebe Ihnen jetzt eine rationale Erklärung, die nichts mit Eva mit den drei Gesichtern oder sonst einem Psychokrimi zu tun hat, den Sie vielleicht gestern im Nachtprogramm gesehen haben.«
Clare wollte protestieren, doch Bella hob die Hand und gebot ihr zu schweigen. »Ich weiß, es ist ganz normal, dass Sie das Schlimmste befürchten. Wäre das nicht so, wären Sie keine guten Eltern. Aber sehen wir uns noch einmal an, was passiert ist. Sie sagen, ›Melanie‹ war das erste Wort, das sie nach ›Mommy‹ und ›Daddy‹ benutzt hat.«
»Es war sogar schon vorher«, erklärte Tom. »Sie versuchte, etwas zu sagen, das wie ›Melone‹ klang. Was immer es war, es klang wie ein Wort, und so haben wir ihr ›Momma‹, ›Dadda‹ und ›Julia‹ beigebracht. ›Momma‹ und ›Dadda‹ hat sie gleich gelernt, aber gegen ›Julia‹ wehrte sie sich von Anfang an. Sie hat immer nur ›Melanie‹ gesagt.«
»Hatten Sie eine Melone gegessen oder darüber geredet? War eine Melone im Zimmer?«
»Nein. Deswegen fand ich es ja so merkwürdig, dass sie dieses Wort zu sagen versuchte.«
»Vielleicht hat sie es gar nicht versucht. Vielleicht war es nur eins von den Geräuschen, die Babys halt machen. Aber weil Sie darauf angesprungen sind und Julia Ihre Namen beizubringen versuchten, glaubte das Kind, sein eigener Name müsse ›Melone‹ sein.«
»Wie Sie schon sagten, ist das eine rationale Erklärung, Bella«, sagte Clare, die noch nicht bereit war, sich geschlagen zu geben, »aber das erklärt nicht, warum diese ganze Melanie-Geschichte gestern wieder hochgekocht ist.«
Die Ärztin, die Clares Besorgnis ernst nahm, sah sie ruhig an. »Ich glaube aber doch, Clare. Kinder erinnern sich an die seltsamsten Dinge. Sie könnte sich ebenso daran erinnern, dass Sie ihr den Eindruck vermittelt haben, ihr Name sei Melanie, um ihr dann zu sagen, dass sie Julia heißt. Also glaubt Julia jetzt, mehrere Namen zur Auswahl zu haben.«
Clare sah Dr. Warne skeptisch an. Bella kannte diesen Blick, und auf ihrem normalerweise eher abweisenden Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, das eine erstaunliche Wärme ausstrahlte.
»Zugegeben, es ist nur eine Theorie, aber sie ist plausibel. Eigentlich will ich Ihnen nur sagen, dass Sie wegen dieser Sache keinen Grund zur Sorge haben.«
Sie gingen von Bellas Büro zu Julia. Das Mädchen war angezogen und fertig für die Nachhausefahrt. Nachdem sie die Schwestern und Bella umarmt hatte, verließ sie das Gebäude. Sie hielt die Hand ihrer Mutter und umklammerte noch immer ihr geliebtes Stoffäffchen.
Sie sprachen alles noch einmal durch. Schließlich ließ Clare von der Idee ab, ihre Karriere aufzugeben. Den Ausschlag gab letztlich ihre Angst, sich in eine übervorsichtige Mutter zu verwandeln. Außerdem sollte Julia schon bald in die Vorschule kommen, sodass sie weniger Zeit zu Hause verbringen würde.
Tom fuhr wieder nach New York, um sich mit dem Verleger zu treffen, den er in der Woche zuvor versetzt hatte. Sie machten einen Vertragsentwurf und einen Zeitplan, soweit es in diesem frühen Stadium möglich war. Als Tom nach Hause kam, war es sieben Uhr durch, doch als er Clare sah, wusste er im selben Augenblick, dass etwas nicht stimmte. Sie war angespannt und blass. Sie habe ihn nicht angerufen, erklärte sie, weil kein Grund bestehe, in Panik zu geraten. Aber es war beunruhigend. Denn es war wieder passiert – die Sache mit »Melanie«.
Clare war an Julias Tür vorbeigekommen, als sie das Mädchen reden hörte. Sie war stehen geblieben, um zuzuhören – nicht um zu lauschen, sondern wegen jener zärtlichen Neugier, die alle Eltern haben, wenn es um die geheimnisvolle Fantasiewelt ihrer Kinder geht. Sie nahm
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