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Mysterium

Mysterium

Titel: Mysterium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ambrose
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schließlich sprach, war es so, als wäre sie nicht mehr im Zimmer und als hätte sie etwas Wichtiges zu sagen, das sie dem Fremden vor ihr begreiflich machen musste.
    »Mein Daddy ist weggegangen.«
    Hunt ließ nicht den Hauch einer Reaktion erkennen, sondern sah ihr weiter mit seinem entspannten, freundlichen Blick in die Augen.
    »Nicht dieser Daddy. Dein Daddy ist hier.«
    Ohne zu zögern, sagte Julia: »Mein anderer Daddy.«
    Wieder zeigte Hunt keine Reaktion. Tom sah nicht nach links und nach rechts, obwohl er Clares ängstlichen Blick deutlich spürte.
    »Und wie nennt dein anderer Daddy dich?«
    »Melanie«, sagte das Kind und hob dabei leicht die Stimme, als ob es eine Frage wäre, was offensichtlich nicht der Fall war. Sie war sich einfach nicht sicher, ob sie es sagen sollte.
    »Sehr schön«, sagte Hunt, beugte sich ein wenig vor und schuf so eine gewisse Intimität zwischen ihnen. »Jetzt kannst du nach nebenan gehen und mit Schwester Rogers spielen. Es dauert eine Weile, dann kommen Mommy und Daddy und nehmen dich mit nach Hause. Okay?«
    Julia ging fröhlich in den Raum voller Spielsachen nebenan und begab sich unter die freundliche Aufsicht der schon etwas älteren Schwester. Brendan Hunt drehte sich um und sah in die Gesichter des besorgten Paares vor seinem Schreibtisch. Sein Büro war mit Holz getäfelt und bequem möbliert. An der Wand hinter ihm hingen gerahmte Urkunden seiner akademischen Abschlüsse und Auszeichnungen, während die anderen Wände mit einer Sammlung echter, zum größten Teil abstrakter Gemälde geschmückt waren.
    »Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir körperliche Ursachen ausschließen können«, erklärte er. »Wir werden weitere Untersuchungen machen, einschließlich einer Hirntomographie. Wir werden alles tun, was nötig ist oder was Sie als notwendig erachten. Doch ich habe das starke Gefühl, es handelt sich hier um eine Kinderfantasie, die sozusagen Amok läuft oder die zumindest den häuslichen Frieden gefährdet.«
    »Aber warum? «
    Clares Frage zeugte von der Ratlosigkeit eines Menschen, der eine Situation klar erfasste, nicht aber den Sinn dahinter.
    »Wenn ich Julia ein paarmal gesehen habe, können wir das vielleicht herausfinden. Am besten fangen wir damit an, dass Sie mir etwas von sich erzählen.«
    Tom und Clare hatten sich darauf vorbereitet, da sie von der Annahme ausgingen, dass es in ihrem Fall eher die Schuld der Eltern war, dass ihr Kind psychische Probleme hatte. Bis tief in die Nacht hatten sie ihr Gedächtnis und ihr Gewissen durchforscht, um sich an Dinge zu erinnern, die sie getan oder gesagt oder unterlassen hatten – und die diesen Zustand bei ihrer Tochter hervorgerufen haben könnten, falls ›Zustand‹ der richtige Ausdruck war. Clare machte sich immer noch Vorwürfe, zu früh wieder arbeiten gegangen zu sein, doch Tom wollte nichts davon hören. Er seinerseits konnte nie vergessen, dass er Alkoholiker war. Zugegeben, es war eine Krankheit, keine Sünde und nichts, wofür er sich hatte schuldig fühlen müssen. Aber wie alle Alkoholiker, wie alle Süchtigen, war er sich der Auswirkungen, die sein Problem auf das Leben anderer Menschen und besonders das seiner Nächsten haben konnte, schmerzlich bewusst. Er hatte in fünf Jahren nicht ein einziges Glas angerührt, also konnten weder Clare noch Julia den schlimmsten Erscheinungen seiner Krankheit ausgesetzt gewesen sein.
    Aber gab es andere Auswirkungen? Andere Möglichkeiten, Schaden anzurichten? Er konnte sich dessen nicht sicher sein. Vielleicht, sagte er sich, besaßen Alkoholiker eine besondere Mentalität, die sie für andere Menschen gefährlich machte, selbst wenn sie trocken waren. Vielleicht waren Alkoholiker, zumindest einige von ihnen, einfach gefährlich.
    Hunt hörte sich alles mit professionellem, unvoreingenommenem Gleichmut an: ihre Ängste und Hoffnungen, ihre Schuldgefühle und Geständnisse. Hin und wieder machte er eine Pause, um sich etwas zu notieren, unterbrach sie jedoch nie, außer für gelegentliche Fragen, die verdeutlichen sollten, was sie zu sagen versuchten, oder um etwas zu klären, das sie selbst nicht ganz verstanden hatten. Erst als sie geendet hatten, blickte Hunt zu ihnen auf und lächelte sie freundlich und aufmunternd an.
    »Normalerweise würde ich bei einem solch kleinen Kind eine Art Spieltherapie vorschlagen. Und die ist am wirksamsten, wenn sie intensiv ist – vielleicht dreimal die Woche, am Anfang sogar täglich. Das erscheint mir am

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