Mysterium
dass Julia bei diesen Sitzungen großen Spaß hatte. Auch ihre Eltern gewannen den Eindruck, dass sich alles gut entwickelte, nicht nur aufgrund der Berichte, die Hunt ihnen im Lauf der Wochen erstattete, sondern auch durch Julias Verhalten zu Hause.
Es gab nur eine Sache, um die Hunt sie zu Anfang bat: Sie sollten Julia niemals und unter gar keinen Umständen Fragen über ihre imaginären Eltern stellen.
»Wenn Sie Julia auffordern, über ihre Fantasie-Eltern zu sprechen, bekommen sie für das Mädchen nur einen höheren Stellenwert. Und wenn sie selbst von ihnen spricht, wechseln Sie am besten das Thema. Ich denke, die imaginären Eltern werden schon bald aus ihren Gesprächen verschwinden. Ich versuche zu erreichen, dass Julia sie buchstäblich in die Schublade steckt und darin lässt. Sobald sie zu Beginn einer Sitzung nur die Dinge auspackt, die ihr Leben mit Ihnen repräsentieren und nichts anderes, werden wir ziemlich genau das erreicht haben, was wir uns erhoffen.«
Es dauerte drei Monate, diesen Punkt zu erreichen. Wenn eine Therapie erfolgreich war, erklärte Hunt, endete sie nicht mit einem Paukenschlag, sondern mit einem Wimmern. Es gab keine dramatische Veränderung über Nacht; man bemerkte nur eines Tages, dass das Problem, mit dem man sich herumgeschlagen hatte, nicht mehr existierte. Und wie bei der Erinnerung an körperliche Schmerzen war es schwierig, sich an seelisches Leid zu erinnern. Ihre Eltern konnten nicht mit Sicherheit wissen, ob Julia Schmerzen oder irgendwelche seelischen Nöte erlitten hatte. Brendan Hunt glaubte nicht daran und riet ihnen ab, Julia danach zu fragen, denn dies barg das Risiko, in ein Wespennest zu stechen, das gerade erfolgreich ausgeräuchert worden war.
Tatsächlich schien Julia von ihren Fantasien über eine zweite, alternative Familie nie allzu verwirrt oder beunruhigt gewesen zu sein, außer im Krankenhaus, als sie nach ihrer Mommy gerufen und Clare in dieser Rolle abgelehnt hatte. Der Schmerz damals und für die meiste Zeit danach war der von Clare und Tom gewesen.
Aber das war nun Vergangenheit, und mehr brauchten sie nicht zu wissen. Sie waren Brendan Hunt dankbar – und dankten es auch einander –, dass sie diesem Sturm getrotzt hatten.
Sie waren dankbar, dass sie ihre geliebte Tochter wieder für sich allein hatten.
In den nächsten fünf Jahren wuchs Julia Freeman zu einem sehr hübschen, fröhlichen jungen Mädchen heran. Der blonde Krauskopf der Kleinkinderzeit wich langen, weichen Locken, die sie mit einem »Alice-Band« an ihrem Platz hielt – ein Stirnband, wie man es auf frühen Illustrationen von Alice im Wunderland sehen kann. Julias Eltern waren der Meinung, sie habe tatsächlich etwas von Alice im Wunderland an sich: eine natürliche Sanftheit, gepaart mit einem wachen Verstand und schier grenzenloser Neugier.
Sie war eine gute Schülerin und bei Lehrern und Mitschülern gleichermaßen beliebt. Für Sport interessierte sie sich nicht besonders, außer fürs Schwimmen. Außerdem mochte sie Pferde und lernte reiten. Da sie viele Freunde hatte, war sie nie einsam, obwohl es Zeiten gab, in denen sie es vorzog, allein zu sein. Dann verkroch sie sich in ihrem Zimmer und las stundenlang, als hätten die Bücher sie ganz und gar in Bann geschlagen. Tom und Clare waren erfreut, dass Julia selten allein vor dem Fernseher saß; für das Mädchen war Fernsehen eine Sache, der man eher in Gesellschaft anderer nachging; entweder kamen Julias Freundinnen vorbei, oder sie ging zu ihnen, und dann schauten sie gemeinsam ihre Lieblingsprogramme an oder spielten ein Computerspiel. Doch wenn Julia allein war, bevorzugte sie Bücher.
Tom und Clare waren nicht entschieden dagegen, weitere Kinder zu bekommen. Sie sagten sich: Was geschehen soll, geschieht. Dass es nicht geschah, machte weder Clare noch Tom allzu viel aus. Wären beide jünger gewesen, hätte die Sache vielleicht anders ausgesehen. Aber als Julia acht wurde, war Tom bereits vierzig und Clare nicht mehr weit davon entfernt. Toms Karriere hatte sich zunehmend besser entwickelt, und Clare arbeitete nun wieder ganztags, ebenfalls mit Erfolg. Sie wohnten in demselben Haus wie damals, weil sie es lieben gelernt hatten, doch sie hatten sich eine Zweitwohnung in Manhattan gekauft, was Tom die geschäftlichen Meetings vereinfachte und an Wochenenden nützlich war, wenn sie in der Stadt bleiben und sich eine Show ansehen wollten.
Manchmal, in stillen Augenblicken oder den zum Glück seltenen Fällen,
Weitere Kostenlose Bücher