Mysterium
unterstützen sollen.«
»Du hast Recht.« Er dachte einen Augenblick nach. »Ich glaube, als Erstes müssen wir mit Hunt Kontakt aufnehmen.«
»Ja, das hätte ich schon tun sollen.« Sie blickte mit einer solch angstvollen Miene zu ihm hinüber, wie er sie noch nie bei ihr gesehen hatte. »Tut mir Leid«, sagte sie mit gebrochener Stimme.
»Du hast alles richtig gemacht. Mach dir keine Sorgen, wir schaffen das schon.«
Clare blickte wieder auf die Straße und rieb sich mit der Hand über die Augen, um den Schleier fortzuwischen, der sich darüber gelegt hatte. Tom sah, dass sie sich auf die Lippen biss. Er streckte die Hand aus und berührte sanft ihre Wange. »Ich meine das ernst. Alles wird gut.«
Eine Zeit lang schwiegen sie; dann fragte Tom: »Es hat gestern Nacht angefangen? Einfach so, aus heiterem Himmel?«
Sie nickte. »Wir hatten gerade das Abendessen bestellt. Julia sagte, dass sie Hackbraten wollte. Julia und Hackbraten! Ich dachte schon, dass sie sich vertan hätte und vielleicht Hühnchen oder Nudeln wollte. Aber sie bestand auf dem Hackbraten. Ich sagte: ›Sonst isst du doch keinen Hackbraten‹. Da hat sie mich ganz seltsam angeschaut, als würde ich sie einer Lüge bezichtigen, und sagte: ›Ich bin jetzt Melanie‹«
»Und ihre Freundin Charlotte? Du sagtest, sie sei in alles eingeweiht gewesen?«
»Es stellte sich heraus, dass Julia ihrer Freundin gesagt hatte, das sei der eigentliche Grund, dass sie herkommen wollte – weil in der Nähe ihre ›geheime Familie‹ wohne. Charlotte musste schwören, nichts zu verraten. Du weißt ja, wie Kinder sind.«
Tom war sich nicht sicher, ob er überhaupt etwas von Kindern verstand. Vielleicht hatte er zu spät in seinem Leben damit angefangen. Vielleicht war es für ihn und Clare einfach zu hoch. Auf jeden Fall kam es ihm jetzt so vor.
»Und das Verrückte ist«, sagte Clare, »dass sie den Eindruck macht, als wäre nichts gewesen. Nur dass sie auf der Anrede Melanie besteht, wenn jemand sie Julia nennt.«
»Das klingt fast wie ein Spiel.«
»Ist es aber nicht.«
Als sie zum Hotel kamen, entdeckten sie Julia, Charlotte und deren Eltern im beheizten Schwimmbad. Charlottes Eltern hatten offenbar bemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war. Da sie die Situation aber nicht durchschauten, waren sie nun ein wenig in Verlegenheit.
Als Julia Tom erblickte, lief sie mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu und rief: »Daddy, Daddy!«
Tom umarmte sie fest und achtete nicht auf die feuchten Flecken, die sich auf seinem Mantel ausbreiteten. Er wusste selbst nicht, warum er die nächsten Worte aussprach; sie kamen ihm plötzlich in den Sinn – ein Ausdruck von Gefühlen, die ihn beinahe zu ersticken drohten.
»Bin ich wirklich dein Daddy?«, fragte er.
Sie sah ihn mit gespielter Überraschung an, als wollte er sich einen Spaß mit ihr erlauben.
»Natürlich bist du mein Daddy!«, entgegnete sie dann, fiel ihm wieder um den Hals und drückte ihre Wange an seine. »Ich liebe dich!«
»Und dein anderer Daddy?«, fragte Tom.
Sie schwieg, also hakte er nach.
»Liebst du deinen anderen Daddy auch?«
Sie schüttelte den Kopf »Er ist nicht wie du.«
Tom bemerkte Clares ängstlichen Blick und fragte: »Und deine andere Mommy?«
Julia beugte sich ein wenig zurück, sodass sie Tom in die Augen sehen konnte. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht.
»O ja«, sagte sie. »Ich liebe meine andere Mommy.«
15
Die Stimmung am Abend war angespannt, doch die Lage war nicht hoffnungslos. Clare hatte mit Charlottes Eltern gesprochen, die Verständnis für die Situation aufbrachten und sich ganz nach Clare und Tom richten wollten.
Tom war es gelungen, Brendan Hunt ans Telefon zu bekommen. In den Jahren, als Hunt Julia behandelt hatte, waren sie ihm ziemlich regelmäßig über den Weg gelaufen. Saracen Springs war ein Ort, an dem sich die verschiedenen gesellschaftlichen Kreise überschnitten. Hunt war stets neugierig, wie Julia sich entwickelte, und freute sich, dass sie keine weiteren Probleme hatte. Er schien sich nie ernsthaft Sorgen um sie gemacht zu haben und erklärte, dass sie ihn nicht noch einmal aufsuchen müsse. Soweit es ihn betraf war die Episode beendet. Wann immer er und Julia sich trafen – ob auf der Straße, in einem Restaurant oder im Haus eines gemeinsamen Freundes –, hatte sie ihn wie einen Lieblingsonkel begrüßt und sich gefreut, ihn wiederzusehen.
Hunt hörte schweigend zu, als Tom am Telefon erklärte, was geschehen war. »Ich kann eigentlich
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