Mysterium
auf das Papier. Diesmal beugte er sich darüber und vermied es, das Blatt aufzunehmen und seine zitternde Hand erneut zur Schau zu stellen.
»Darüber stehen hier keine Einzelheiten. Offenbar hat ein Ehepaar ein Foto des Mädchens in der Zeitung gesehen und erklärt, die Kleine ein Stück mitgenommen zu haben.«
Einen Augenblick schwiegen die drei Männer. Edwards nutzte die Gelegenheit, die Reste vom Bier und vom Wodka auszutrinken. Dann schob er den Stuhl zurück und stand auf.
»Nun, wenn sie keine weiteren Fragen mehr haben. Auf meinem Schreibtisch stapelt sich die Arbeit …«
Tom und Lewis dankten ihm und schüttelten ihm flüchtig die Hand. Dann setzten sie sich wieder, während Edwards das Lokal verließ.
»Sawyer hat sie umgebracht«, sagte Tom. »Das ist die einzige Erklärung. Jim Sawyer hat sie ermordet.«
28
Sawyer war auf der Schicht, die um fünf endete. Tom stand an derselben Stelle, wo er schon vor ein paar Tagen auf ihn gewartet hatte. Diesmal kam Sawyer allein heraus. Als er Tom sah, blieb er stehen und nickte bedächtig. Er hatte die unausgesprochene Herausforderung erkannt. Dann ging er mit einem grimmigen, kalten Lächeln weiter.
Tom rührte sich nicht, als Sawyer näher kam. Diesmal bewegte Sawyer sich wie ein Mann, der eine Warnung ausgesprochen hatte und sich nun darauf freute, beweisen zu können, dass er es ernst gemeint hatte.
»Diesmal lassen wir den Drink weg, Sawyer«, sagte Tom. »Sagen Sie mir nur, warum Sie die Polizei belogen und ausgesagt haben, Melanie sei wieder zu Hause.«
Sawyer erstarrte, und das Blut wich aus seinem Gesicht. »Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Die Polizei, wer sonst?«
»Was mischen Sie verdammter Scheißkerl sich da ein!«
Er hatte die Fäuste geballt, und Tom machte sich auf einen Schlag gefasst. Es war verrückt, aber irgendetwas drängte ihn zum Kampf Doch seine Vernunft sagte ihm, dass er diesem Mann nicht gewachsen war: Sawyer war größer und kräftiger als er. Doch wenn man nur wütend und verrückt genug war, brauchte man niemanden zu fürchten. Und Tom war wütend genug auf den Mann, der jetzt vor ihm stand, auf diesen Mistkerl, der einem wehrlosen Mädchen Schreckliches angetan hatte und der seine Tochter und seine ganze Familie in diese Sache hineingezogen hatte. Er wollte es Sawyer nun heimzahlen.
»Sehen Sie mal da rüber«, sagte er rasch, als Jim Sawyer zum Schlag ausholte. Sawyer drehte den Kopf in die gewiesene Richtung. »Ist da jemand, den Sie wiedererkennen?«
Sawyer riss die Augen auf, als er Murray Schenk entdeckte, der an einem unauffälligen Wagen lehnte. Auf der anderen Seite stand ein junger, hünenhafter Detective mit einer Neandertaler-Stirn und blickte düster über das Dach hinweg. Der Mann war ein Cop aus Murray Schenks alter Polizeiwache. Er wog mindestens hundertzwanzig Kilo, ohne ein Gramm zu viel Fett mit sich herumzutragen.
»Steigen wir in den Wagen und reden auf der Wache weiter«, sagte Tom.
Schenk hatte die ganze Sache reibungslos organisiert. Obwohl pensioniert, war nicht zu übersehen, dass er bei den Kollegen immer noch beliebt war, und sie hatten ihm gern ausgeholfen. Während Sawyer von Schenk und dem Neandertaler im Verhörraum in die Mangel genommen wurde, verfolgte Jack Edwards, der von Rochester gekommen war, die Konfrontation über das hausinterne Video in einem Nebenraum. Tom und Lewis waren bei ihm. Es dauerte eine Weile, aber letztendlich war Edwards sicher, dass Sawyer der Mann gewesen war, mit dem er im Zusammenhang mit Melanie Hagans Verschwinden gesprochen hatte, und dass Sawyer ihn einige Zeit später angerufen hatte, um zu melden, dass Melanie nach Hause zurückgekehrt sei und der Fall abgeschlossen werden könne.
Dann ging Edwards zu den Männern im Verhörraum, während Tom und Lewis weiter über das Hausvideo zuschauten. In dem Augenblick, als Edwards den Verhörraum betrat, wusste Sawyer, dass das Spiel aus war. Bis dahin hatte er Ausflüchte gemacht, einen Anwalt verlangt, gefragt, warum man ihn festhielt, und eine große Show abgezogen, dass er zur Kooperation bereit sei und helfen wolle, dieses »Missverständnis« aufzuklären.
Noch bevor Edwards die Tür hinter sich geschlossen hatte, veranstaltete er mit der geübten Derbheit des »bösen Cops« ein Donnerwetter.
»Die Leiche brauchen wir nicht, Sawyer. Dieser Fall ist auch ohne Leiche wasserdicht. Sie sollten gestehen, Mann – und zwar jetzt. Sie haben sich zehn Jahre lang mit der Schuld herumgequält und bereuen Ihre
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