Mysterium
seit neununddreißig Jahren hier, wissen Sie …«
Sie redete und redete, ohne auf den Punkt zu kommen, obwohl sie offensichtlich unter Zeitdruck stand: An dem Schaltkasten, den sie verlassen hatte, sah Tom mehrere Lämpchen blinken.
»Ich wusste, dass Sie gestern und heute im Haus waren, weil ich zufällig den Anruf von Sergeant Edwards mitgehört habe, in dem er gesagt hat, warum Sie kommen wollten. Ich hätte ja gleich mit Ihnen gesprochen, aber wie ich schon sagte, bin ich nur zwei Tage die Woche hier, sodass ich viele von den neueren Mitarbeitern kaum kenne, aber …«
»Können Sie mir irgendetwas sagen?«, unterbrach Tom den Redefluss der Frau, wobei er versuchte, nicht schroff zu erscheinen.
»Ja, das kann ich. Wissen Sie, mit wenigen Ausnahmen hat keiner von den Leuten schon vor zehn Jahren hier gearbeitet. Ich selbst bin eine der wenigen Ausnahmen, wie ich schon sagte, seit neununddreißig Jahren bin ich jetzt hier. Jedenfalls, ich kann mich gut an den Vorfall erinnern, der Sie interessiert …«
»Soll das heißen, Sie wissen, wer das Foto von dem Mädchen wiedererkannt hat?«
»Ja, natürlich weiß ich das. Es war meine Kusine, Alice Macabee.«
Alice Macabee, die ungefähr zehn Jahre älter war als ihre schwatzhafte Verwandte, lebte in einem Heim in einer Vorstadt nur eine halbe Stunde vom Zeitungsgebäude entfernt. Sie bewegte sich mithilfe eines Laufgestells, war geistig aber noch voll auf der Höhe und hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor.
»Sie müssen unbedingt Kaffee oder Tee mit mir trinken«, sagte sie, während sie zur Kochnische schlurfte. »Sonst bekomme ich keine Bewegung. Mir werden sämtliche Mahlzeiten gebracht, aber meinen Tee und Kaffee koche ich mir selbst.«
»Also gut.« Tom lächelte. »Wenn das so ist, nehme ich gern eine Tasse Kaffee.«
Die Telefonistin bei der Zeitung, deren Name Marion Walsh lautete, wie Tom erfahren hatte, hatte ihn nach Feierabend selbst zu ihrer Kusine fahren wollen, doch Tom hatte erklärt, nicht so lange warten zu können. Schließlich hatte Mrs. Walsh sich bereit erklärt, ihre Kusine anzurufen und Tom widerstrebend eine Wegbeschreibung gegeben.
»Ich kann mich sehr gut an das Kind erinnern«, sagte Mrs. Macabee nun, während sie sich in zwei Sessel neben einem breiten Fenster setzten, das den Blick auf einen öffentlichen Park gewährte. »Mein Mann, der vor zwei Jahren gestorben ist, wollte damals gar nicht erst halten. Er hielt nichts von Anhaltern, wissen Sie. Aber ich habe gesehen, dass das Mädchen noch ein Kind war, und da war es natürlich viel besser, dass sie mit uns fuhr anstatt mit irgendwelchen Leuten, die ihr vielleicht etwas angetan hätten.«
»Hat sie Ihnen gesagt, wie alt sie war?«, fragte Tom.
»Siebzehn, sagte sie. Das habe ich ihr natürlich keine Sekunde geglaubt, doch als ich ein paar Tage später ihr wirkliches Alter in der Zeitung las, war ich dann doch schockiert. Das Mädchen sah viel älter aus als dreizehn.«
»Hat sie gesagt, woher sie kam und wohin sie wollte?«
»Sie hat einen Ort genannt, aber ich erinnere mich nicht. Sie sagte, ihre Mutter hätte ihr das Geld für den Bus gegeben, aber sie würde es lieber behalten und stattdessen per Anhalter fahren. Wir sagten ihr, dass das keine gute Idee sei, weil viele schlechte Menschen unterwegs wären. Aber die jungen Leute lassen sich ja nichts sagen. Unsere beiden Kinder waren genauso. Sie sind jetzt in den Vierzigern und haben selbst Kinder, und nun machen sie all die Sorgen und Ängste durch, wie wir sie mit ihnen hatten.« Sie lachte ein leises, gutmütiges Lachen. »Nun ja, man kann von den Kindern nicht erwarten, dass sie genau so aufwachsen, wie man es gern hätte. Das wäre nicht sehr klug, stimmt’s?«
»Können Sie sich wirklich nicht daran erinnern, wohin das Mädchen wollte?«
»In östliche Richtung. Wo war das nur … ? Vielleicht fällt mir der Name ja noch ein.«
»Und Sie sind nie darüber befragt worden? Von der Polizei oder sonst jemandem?«
»Nie. Als wir das Foto von dem Mädchen gesehen haben, wurde sie ja schon nicht mehr vermisst … jedenfalls hat man uns das damals zu verstehen gegeben. Darum ist es ja so beunruhigend, was Sie mir jetzt erzählen. Sie wollen also sagen, dass man seitdem nichts mehr von dem armen Kind gehört hat?«
»Ich fürchte, nein.«
»O Gott, das ist ja furchtbar. Vielleicht hätten mein Mann und ich mehr für sie tun sollen. Wir hätten wenigstens dafür sorgen sollen, dass das Mädchen in Sicherheit ist
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