Mysterium
…«
»Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte Tom. »Niemand hätte mehr für das Mädchen tun können als Sie.«
Eine Zeit lang saßen sie schweigend da. Eine spürbare Traurigkeit hatte Mrs. Macabee überkommen, als sie nun an das Mädchen dachte, an das sie sich offenbar sehr gut erinnerte.
»Albany!«
Der Name platzte so plötzlich aus ihr heraus, dass Tom erschrocken zusammenzuckte. »Albany?«, fragte er verblüfft. »Sie meinen, das Mädchen wollte nach Albany?«
»Ja! Ich wusste, ich würde mich erinnern, wenn ich mir ein bisschen Zeit lasse. Das Mädchen sagte, dass es irgendwo in der Nähe von Albany ein Musikfestival gäbe.«
Sie blickte Tom mit einem freudigen Lächeln an, das aber sofort wieder erlosch. Sie musste in seinem Gesicht etwas gesehen haben, das sie beunruhigte. »Stimmt etwas nicht, Mr. Freeman? Sie sehen so merkwürdig aus …«
»Nein, es ist nichts«, erwiderte Tom rasch. »Bloß ein Zufall.«
»Ein Zufall?«
»Nur dass …« Er sprach nicht weiter. »Nichts, wirklich nicht. Ich danke Ihnen, Mrs. Macabee, Sie haben mir sehr geholfen.«
30
»Tom! Um Himmels willen, Tom!«
Clare versuchte, seine um sich schlagenden Arme festzuhalten, doch er schleuderte Clare mit solcher Kraft nach hinten, dass sie gegen das Kopfteil des Bettes schlug. Mehr vor Schreck als vor Schmerz schrie sie auf.
Tom sprang aus dem Bett und lief blind durchs Zimmer, wobei er immer noch mit den Armen schlug, als würde er unsichtbare Hindernisse aus dem Weg stoßen. Seine Augen waren geöffnet, aber er nahm nichts wahr. Er stieß einen kleinen Tisch um, bevor er über einen Stuhl stolperte und mit lautem Krachen zu Boden stürzte.
»Tom!«
Falls er sie hörte, ließ er sich nichts anmerken. Clare eilte zu ihm und half ihm auf die Beine, obwohl er sie wegzuschieben versuchte. Tief aus seiner Kehle stieg ein schreckliches, klagendes Geräusch auf.
»Tom, wach auf!«, rief Clare. »Wach auf!«
Sie schüttelte ihn, so fest sie konnte, und endlich klärte sich sein Blick. Er schaute Clare an, die Augen immer noch voller Angst.
»Alles ist gut«, sagte sie. »Du hattest einen Albtraum. Es ist vorbei …«
Er runzelte verwirrt die Stirn. Dann ließ er den Blick durchs Zimmer schweifen, als könne er nicht glauben, wo er sich befand, oder könne nicht verstehen, wie er dort hingekommen war. Ein Speichelfaden lief ihm aus dem Mundwinkel, und er murmelte unzusammenhängende Worte.
Mein Gott, dachte Clare schaudernd. Er sieht aus wie eine gequälte, sabbernde Gestalt in einem Film über ein Irrenhaus im neunzehnten Jahrhundert.
»Es war wieder dein Traum«, sagte sie. »Jetzt ist es vorbei. Alles ist in Ordnung.«
Clare schloss ihn in die Arme. Tom schien endlich zu sich zu kommen und klammerte sich an sie. Sein Atem ging schwer, und er zitterte. Plötzlich weiteten sich seine Augen als Reaktion auf irgendein weiteres Schreckensbild, das er über ihre Schulter hinweg zu sehen schien.
Clare drehte sich um.
In der Tür stand Julia in ihrem Nachthemd. Sie war blass und verängstigt.
»Keine Angst, Liebling«, sagte Clare, »es ist alles in Ordnung. Daddy hatte einen bösen Traum.«
Der Blick des Mädchens blieb auf ihren Vater gerichtet. Was sie sah, machte ihr noch mehr Angst als der Lärm und die Schreie in der Nacht. Dieser nackte Mann mit dem gequälten Blick im verhärmten Gesicht war ein Verrückter – nicht der Vater, den sie kannte. Nach einer Weile hielt sie den Anblick nicht mehr aus, warf sich herum und rannte davon.
»Du solltest lieber zu ihr gehen«, sagte Tom mit belegter Stimme. »Sag ihr, dass es mir Leid tut. Ich komme in einer Minute nach … wenn ich mir was angezogen habe.«
Clare zögerte, Tom allein zu lassen, sah aber, dass er sich wieder im Griff hatte, auch wenn er tief erschüttert war. Rasch ging sie zum Zimmer ihrer Tochter. Das Mädchen lag auf dem Bett und schluchzte, das Gesicht in den Kissen vergraben; ihr ganzer Körper zitterte von dem Schock, der wie aus dem Nichts über sie hereingebrochen war.
»Schatz, es ist alles in Ordnung. Daddy hatte nur einen bösen Traum. Es ist vorbei …«
Das Mädchen drehte sich abrupt um und klammerte sich an sie, als fürchtete es um sein Leben. »Ich hatte solche Angst!«, stieß sie schluchzend hervor.
»Ich weiß. Ich hatte auch Angst. Und Daddy ebenfalls. Du weißt doch, wie schlimm Träume sein können. Aber jetzt ist alles wieder gut.«
Sie hörte eine Bewegung hinter sich, drehte sich um und sah Tom in der Tür stehen – eine
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