Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mysterium

Mysterium

Titel: Mysterium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ambrose
Vom Netzwerk:
Julia lag genauso da wie zuvor, atmete tief und regelmäßig und bewegte sich nicht. Und doch war es ihre Stimme gewesen, oder fast ihre. Nicht aber der Tonfall. Der Tonfall war ganz anders.
    »Schatz?«, sagte er, doch das Wort blieb ihm im Hals stecken, sodass er beinahe würgen musste. »Julia?«
    Sie rührte sich nicht.
    Hatte er es sich nur eingebildet? War diese Stimme bloß in seinem Kopf gewesen, nicht im Zimmer? Es war möglich. Alles war möglich: Das war das Einzige, dessen er sich inzwischen sicher war. Nach allem, was geschehen war, konnte es kaum überraschen, wenn er jetzt Stimmen hörte.
    Er wandte sich wieder zur Tür.
    »Komm her, du Wichser!«
    Wieder fuhr er herum. Diesmal gab es keinen Zweifel. Die Worte waren an ihn gerichtet, in diesem Zimmer. Es war keine Einbildung. Und der Anblick, der sich ihm bot, auch nicht.
    Julia saß ihm gegenüber auf der Bettkante. Doch dieses Mädchen war nicht mehr seine Tochter. Auf ihren Lippen lag ein Lächeln, das eher ein höhnisches Grinsen war – ein Ausdruck von Spott und provozierender, furchtloser Überlegenheit. Er sah, wie sie sich zurücklehnte, auf die Hände gestützt, und ihr Gewicht so verlagerte, dass ihr Becken sich ihm auf eine Art und Weise entgegenreckte, die anzüglich und eindeutig sexuell war.
    »Was ist hier los?«, fragte er mit unsicherer Stimme. »Julia?«
    Das Mädchen auf dem Bett lachte ihn aus. »Vergiss das Kind. Du redest mit mir.«
    Tom ging einen Schritt auf sie zu. »Raus. Raus aus meiner Tochter!«
    Das Mädchen sah zu ihm hoch und kicherte. »Was ist los, Alter? Eifersüchtig, dass ich noch vor dir in deine Tochter eingedrungen bin?«
    Ohne dass es Tom bewusst war, hatte er die Hand gehoben und war drauf und dran, ihr die Fingernägel durchs Gesicht zu ziehen. Sie zeigte keinerlei Furcht. Irgendetwas in der kalten, distanzierten Belustigung, die aus ihrem Blick sprach, brachte Tom wieder zur Vernunft. Er erinnerte sich an Joe Sawyer bei ihrer ersten Begegnung in Niagara Falls. Er hatte genauso reagiert, als Melanie durch Julia zu ihm gesprochen hatte. Langsam ließ er die Hand wieder sinken. Er zitterte.
    »Hau ab, du Nutte«, zischte er durch die zusammengebissenen Zähne. »Fahr zur Hölle, wo du hingehörst.«
    Sie starrte ihn unverwandt an und ließ sich nicht anmerken, ob sie seine Worte gehört hatte.
    »Du brauchst einen Drink, Alter«, sagte sie. »Das ist dein Problem. Ohne einen Drink wirst du dich an gar nichts erinnern.«
    »Woran soll ich mich denn erinnern?«
    »Na, an alles natürlich.«
    Indem sie die Stimme hob und in falscher Unschuld die Augen aufriss, sorgte sie dafür, dass »alles« einen suggestiven Unterton bekam.
    »Sag mir, was du von mir willst, verdammt. Sag mir, was ich tun soll.«
    »Dich an die Nacht erinnern.«
    Ihr sarkastischer Blick war furchtlos, und es gab keinen Zweifel daran, welche Nacht sie meinte. Er fühlte sich besiegt und machtlos. Als er sprach, war seine Stimme hohl.
    »Was diese Nacht angeht, kann ich mich an gar nichts erinnern.«
    »Ecke River und Pike. Erinnerst du dich jetzt?«
    »Ich weiß nicht, was du …«
    »Du brauchst einen Drink. Dann wirst du eine Menge verstehen. Und jetzt verpiss dich.«
    Fassungslos und fasziniert zugleich beobachtete er, wie sie die Beine ins Bett schwang, sich wieder hinlegte und schüchtern die Steppdecke bis unters Kinn zog. Sie sah ihn immer noch an, doch völlig ausdruckslos, und schloss dann die Augen. Sekunden später lag dort wieder der Körper seiner Tochter. Sie schlief so wie in dem Moment, als er ins Zimmer gekommen war.
    Gelähmt durch die eigene Unschlüssigkeit stand Tom eine Zeit lang wie vom Donner gerührt da. Ein Teil von ihm wollte Julia wecken und ihr vorhalten, was gerade passiert war. Ein anderer Teil war überzeugt, dass sie sich an nichts erinnern würde.
    Und wenn er jetzt nach unten ging und Clare alles erzählte, würde sie ihm glauben. Aber was würde sie glauben? Dass er eine Halluzination gehabt hatte? Wahrscheinlich nicht. Dazu hatte sie zu großes Vertrauen in seine geistige Festigkeit. Aber was würde sie von dem Vorschlag halten, etwas zu trinken?
    Ein Drink? Sollte das tatsächlich die Antwort sein? Die einzige Möglichkeit, mit dem Verbindung aufzunehmen, was er vergessen hatte?
    Erinnere dich an diese Nacht. River und Pike.
    Was bedeutete das? Irgendwie klingelte es bei ihm. Aber warum? Woher kam das? Er drehte und wendete die Worte in Gedanken, als er schon halb auf dem Weg nach unten war. Er hatte Julias

Weitere Kostenlose Bücher