Mysterium
sonst, denn als wir packten und uns zum Weiterziehen bereitmachten, blickte meine Mutter plötzlich um sich und fragte: »Wo sind die Mädchen?«
Alle machten sich auf die Suche. Wir stellten fest, dass keine Spur von ihnen zu entdecken war. Doch es brach nicht sofort Panik aus: Irgendwie, das hatte ich schon immer beobachtet, machten die Erwachsenen sich weniger Sorgen, wenn zwei oder mehr Kinder verschwunden oder in Schwierigkeiten waren als nur eines. Zuerst waren sie wütend, weil sie glaubten, dass es nur ein dummer Streich der Mädchen war, oder Gedankenlosigkeit. Eine Zeit lang riefen wir ihre Namen, aber es dauerte eine Weile, bis meine Eltern sich ernsthafte Sorgen machten. Auch ich. Anfangs hatte es mich gefreut, dass meine Schwester nun eine Tracht Prügel zu erwarten hatte, doch als die Zeit verging, ohne dass sich etwas tat, spürte ich, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Abgesehen von dem flachen Stück am Flussufer, wo wir die Nacht verbracht hatten, war das Gelände bewaldet und felsig. Wohin man auch ging, überall musste man steile Hänge hinaufklettern oder herunterschlittern. Ich wollte meinem Vater in ein kleines Waldstück folgen, doch er drehte sich um und wies mich an, im Lager zu bleiben. »Warte da, falls die Mädchen auftauchen«, sagte er. »Dann ruf mich. Erinnerst du dich an die Alarmpfeife, die Charlie uns bei den Rettungsjacken gezeigt hat? Die kannst du benutzen. Wir werden sie schon hören.«
Ich war ein wenig gekränkt, dass ich aus der Suchmannschaft ausgeschlossen wurde, aber wenn man zehn Jahre alt ist, verbringt man viel Zeit damit, gekränkt zu sein – besonders, wenn man eine Schwester wie Cassie hat, die eine Freundin wie Naomi hat. Ich setzte mich auf einen kleinen, mit Segeltuch bespannten Klappstuhl, wartete und sperrte Augen und Ohren auf. Die Rufe Charlies und meiner Eltern verebbten rasch in der Ferne, auch wenn ab und zu eine der Stimmen schwach bis zu mir drang, wie ein Echo. Einen Augenblick lang ängstigte mich der Gedanke, dass sie alle verschwinden könnten, weggezaubert durch irgendeine fremde, böse Macht in dieser geheimnisvollen Landschaft – oder dass sie sich verirrten und in tiefen Erdspalten oder wilden Strudeln zu Tode stürzten. Die Nacht würde kommen, und ich würde dort ganz allein sein und nicht von dort wegkönnen. Nach einiger Zeit würde man Suchmannschaften und Hubschrauber einsetzen, aber bis dahin würde ich tot sein, oder halb verrückt vor Hunger. Ich hatte von solchen Vorfallen gelesen oder es im Fernsehen gesehen.
In Wahrheit saß ich dort nicht viel länger als zehn Minuten, falls meine Uhr stimmte, bis ich aus einer völlig unerwarteten Richtung Naomis Stimme hörte. Sie schien von irgendwo am Ufer zu kommen, wohin weder meine Eltern noch Charlie gegangen waren. Und sie klang besorgt.
Ich sprang auf und rannte los. Naomi stolperte durch das dichte, dornige Unterholz auf mich zu, ohne auf die Kratzer auf den Händen und im Gesicht zu achten. »Es ist Cassie!«, rief sie, sobald sie mich sah. »Sie ist abgestürzt. Ich glaube, sie ist verletzt!«
»Wo ist sie?«
Naomi zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen war. »Wir sind am Fluss entlang und dann einen Pfad raufgestiegen. Cassie ist vorausgegangen. Als sie oben war, ist sie stehen geblieben und hat sich umgedreht, um zu sehen, wie ich hinter ihr her klettere. Ich weiß nicht, was dann passiert ist … irgendetwas muss unter ihr nachgegeben haben, ein Felsbrocken oder so. Sie hat aufgeschrien und ist auf der anderen Seite verschwunden. Als ich angekommen war, wo sie gestanden hatte, konnte ich nichts sehen, aber ich hab sie rufen hören. ›Hilfe! Hol Hilfe!‹«
Sie blickte um sich, als würde sie erst jetzt bemerken, dass sie nur mit mir sprach, und fragte verzweifelt: »Wo sind deine Eltern? Wo ist Charlie?«
»Die suchen euch beide«, erklärte ich. »Sie sind in diese Richtung gegangen.« Ich streckte den Arm aus. »Und Charlie ist da hingegangen.«
»Du musst sie holen«, sagte Cassie. »Mach schnell!«
»Nein, du gehst. Ruf sie. Sie werden dich hören. Ich versuche, Cassie zu helfen.«
»Es ist gefährlich. Sei vorsichtig.«
»Wo ist der Pfad, den ihr genommen habt?«
»Geh da lang. Es ist nicht weit. Du wirst ihn schon sehen.«
Ich rannte los. Die dichten Sträucher zerrten an meiner Haut wie bei Naomi. Ich konnte mir die Mädchen vorstellen, wie sie nur ungefähr eine halbe Stunde zuvor zu ihrem Abenteuer aufgebrochen waren und sich mühsam
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