Mysterium
trat wieder zu. Jetzt war Blut zu sehen, doch immer noch krallte sie sich fest und starrte mich mit einem Blick voller Panik und Fassungslosigkeit an.
»Was machst du?«, wimmerte sie. »Bist du verrückt? Du bringst mich um!«
Noch immer durchbrach nichts den Horizont über mir, keine Bewegungen, keine Silhouetten, die heruntersahen und Zeugen dessen wurden, was hier geschah.
Ich trat noch einmal zu, doch meine Sportschuhe waren zu weich, und sie krampfte sich mit der übernatürlichen Kraft eines Menschen, der um sein Leben kämpfte, an die Felskante. Und sie schrie. »Nein! Hör auf! Hör auf! Hilfe! «
Immer noch wurde ihre Stimme zum größten Teil durch das tosende Wasser unter ihr verschluckt, aber ich musste sie zum Schweigen bringen. Hastig blickte ich mich um. In der Nähe lag ein Felsbrocken. Ich musste ihn mehrere Male vor und zurück bewegen, bis ich ihn gelockert hatte. Er war schwer, doch ich konnte ihn gerade noch mit einer Hand halten, während ich mich mit der anderen festhielt.
Jetzt schrie sie ununterbrochen. Keine Worte, keine Hilferufe, kein Flehen um Gnade mehr, nur noch schrilles Kreischen voller Todesangst, als ob eine unsichtbare Klaue ihr die Kehle zudrückte.
Ein letzter Blick zurück. Immer noch keiner zu sehen. Das war jetzt bestimmt meine letzte Chance!
Ich schmetterte den Felsbrocken mitten in ihr Gesicht, das zu mir aufschaute. Sie fiel so graziös wie eine Kunstspringerin, die vom höchsten Sprungbrett des Swimmingpools aus einen Salto rückwärts machte – nur dass sie den Überschlag, den sie so elegant begonnen hatte, nicht beendete. Sie schlug mit dem Rücken hart auf einen scharfen Felsen auf prallte ab, schlitterte ins brodelnde Wasser und verschwand.
»Brendan!«
Keuchend fuhr ich herum. Am Himmel über mir zeichnete sich der Umriss meines Vaters ab. Er hatte die Hände vor dem Mund zusammengelegt und dadurch eine Flüstertüte gebildet.
»Sei vorsichtig! Kannst du sie sehen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Bleib, wo du bist! Charlie kommt gleich mit einem Seil.«
Mir wurde bewusst, dass ich die Mordwaffe, den Felsbrocken, noch in der Hand hielt. Er war nun blutbefleckt, aber außerhalb des Sichtbereichs meines Vaters. Ich öffnete meine Hand und ließ ihn in die Tiefe fallen. Es war auch Blut an meinen Füßen, dort, wo Cassie sich so verzweifelt festgeklammert hatte, aber ich blutete selbst, und so würde es keinen Verdacht erregen.
»Halt durch, Brendan. Charlie ist schon da.«
Ich blickte nach oben und sah Charlie mit einem aufgerollten Seil. In ein Ende knotete er eine Schlinge.
»Okay, Brendan«, rief er zu mir herunter. »Leg dir die Schlinge über den Kopf und die Taille. Dann ziehen dein Vater und ich dich hoch.«
Er ließ das Seil über dem Kopf kreisen wie ein Cowboy, der einen Stier fangen will; dann warf er es geschickt hinab, sodass es direkt neben mir landete. Ich legte es um, wie er gesagt hatte, und zog es fest; dann ließ ich mich von ihnen hinaufziehen. Ich ließ den Abstieg schwieriger und gefährlicher erscheinen, als er war, indem ich ein- oder zweimal vorgab, zu stolpern. So erschien es umso heldenhafter, dass ich überhaupt dort hinuntergeklettert war.
In Wirklichkeit war es ein Kinderspiel.
46
Offen gestanden, habe ich keine Ahnung, ob ich meine Schwester jemals umgebracht hätte, hätte sich nicht die perfekte Gelegenheit dazu geboten. Wäre mein Leben sehr viel anders verlaufen, wenn ich sie nicht getötet hätte? Wer weiß. Die Frage zu stellen heißt zuzugeben, dass die Würfel gefallen sind.
Tatsache ist, dass meine Schwester ein geborenes Miststück war. Ich will damit nicht sagen, dass sie von Grund auf schlecht gewesen ist, auch wenn sie todsicher die Anlagen dazu hatte. Zum Teil muss ich meinen Eltern die Schuld daran geben. Wenn man einem Kind einen lächerlichen Namen wie Cassandra gibt, muss man mit Schwierigkeiten rechnen. Schon der Klang verströmt eine Art selbstgefälligen Narzissmus. Natürlich redeten alle sie nur mit Cassie an, aber selbst die verkürzte Form ihres Namens hat etwas Herablassendes, erinnert es einen doch zwangsläufig daran, wie privilegiert man ist, mit einem Verwandten der Götter auf solch vertrautem Fuß zu stehen.
Außerdem haben meine Eltern Cassie vier Jahre lang verwöhnt bis dorthinaus – bis ich geboren wurde. Nicht, dass sie Cassie nach meiner Ankunft auf Erden nicht mehr verwöhnt hätten, nur hatte Cassie eben nicht mehr alles für sich allein. Nach außen tat sie so, als würde sie
Weitere Kostenlose Bücher