Mysterium
die Liebe meiner Eltern zu mir teilen, aber nach ihrem eigenen Verständnis war sie allein im Besitz des göttlichen Rechts, Einzelkind zu sein – ein Privileg, das ich ihr geraubt hatte. Und dafür, beschloss sie, sollte ich teuer bezahlen.
Mein Vater war Anwalt, Partner in einer großen Kanzlei, und ziemlich vermögend. Zu Cassies drittem Geburtstag gab es Karussells und Clowns und Reitponys im Garten unseres Hauses in Chicago. Ich war natürlich nicht dabei – ich war ja noch nicht einmal geplant –, aber ich habe später die Filme und Fotos gesehen. Fairerweise muss ich sagen, dass meine Eltern für mich dasselbe taten, als ich drei wurde; aber meine Schwester, die zu dem Zeitpunkt schon sieben war, verdarb mir den Tag, indem sie Schmerzen vortäuschte, derentwegen sie den ganzen Nachmittag in der Notaufnahme verbrachte, wobei alle voller Angst um sie herumscharwenzelten, sodass ich meine Party ziemlich allein feiern konnte. Okay, die Haushälterin und ihr Mann waren da, ebenso einige Eltern, die zu Besuch gekommen waren, aber es war nicht so, wie wenn Mom und Dad da gewesen wären.
Gegen Abend, als alles vorbei war, ging es Cassie natürlich wieder gut. Ihre Unpässlichkeit wurde auf irgendeinen harmlosen Virus zurückgeführt. Sie wurde mit viel Getue und Trara nach Hause und ins Bett gebracht, und dann bekam sie auf einem Tablett Kuchen und Eis serviert, während sie fernsah. Der einzige Hinweis darauf dass sie mich überhaupt wahrgenommen hatte, bestand darin, dass sie mir die Zunge herausstreckte, als ich den Kopf durch die Tür steckte, um zu sehen, wie es ihr ging. Ihr Triumph war vollkommen.
Ich muss wohl nicht erwähnen, dass es keinen hoch qualifizierten Wissenschaftler braucht, um die familiären Spannungen und den Stress der Rivalität unter Geschwistern zu erkennen. Was den Fall besonders machte, war das Ausmaß von Cassies Boshaftigkeit. Die Lügen, die sie über mich erzählte, und die Demütigungen, mit denen sie mich überhäufte, oft mithilfe ihrer kichernden Freundinnen, erscheinen mir heute, wenn ich darauf zurückblicke, ausgesprochen grausam. Das meiste war relativ banal, wenn auch nicht weniger schmerzlich für mich: kaputtes Spielzeug, versteckte Kleidungsstücke, kleinere Vergehen im und um das Haus, die auf eine Weise begangen wurden, dass der kleine Bruder als der Schuldige dastand. Je mehr ich meine Unschuld beteuerte, umso mehr wurde ich als gewohnheitsmäßiger Lügner betrachtet – eine Ansicht, die eines Nachts durch die panikerfüllten Schreie meiner Schwester bestätigt wurden, als sie in ihrem Bett einen Haufen krabbelnder Würmer und Frösche vorfand. Wer, wenn nicht ein grässlicher Sechsjähriger, der ich inzwischen war, hätte sich so etwas ausdenken können? Als ich anzudeuten wagte, dass meine Schwester den Vorfall selbst inszeniert haben könnte, um mich anzuschwärzen, fing ich mir von meinem normalerweise toleranten Vater zum ersten Mal eine Ohrfeige ein. Er habe genug von meiner Unehrlichkeit, fuhr er mich an; wenn ich so weitermachte, würde ich auf die Kadettenschule geschickt, wo man wüsste, wie man mit Bengeln wie mir umzugehen habe.
Die Drohung mit der Kadettenschule genügte, um sicherzustellen, dass ich fortan schweigend litt. Wann immer ich durch die Machenschaften meiner Schwester fälschlich irgendeiner Missetat beschuldigt wurde, nahm ich einfach die Schuld auf mich. Ich wurde nicht so sehr für ein Problemkind gehalten, sondern schlicht und einfach für dumm: Wer, wenn nicht ein Dummkopf konnte so unablässig und ungeschickt Verbote missachten und Dummheiten anstellen? Ich war nicht der blitzgescheite Kerl, wie meine armen Eltern es sich von ihrem einzigen Sohn erhofft hatten. Meine Schulnoten waren durchschnittlich, eine Sportskanone war ich auch nicht, und meine wenigen Freunde blieben nach und nach aus, bis ich gar keine mehr hatte.
Was niemand wusste: Ich durchlitt eine ausgewachsene Depression, die durch das zunehmend sadistische Verhalten meiner Schwester verursacht worden war. Rückblickend erscheint es seltsam, dass meine Eltern kein Gespür dafür hatten, was vor sich ging. Sie waren kultivierte Leute: Mein Vater war ein belesener Mann und meine Mutter eine aktive Förderin der Künste. Man hätte von ihnen erwarten können, dass sie auf so etwas aufmerksam geworden wären. Heute wäre es vielleicht so, aber man vergisst, wie sehr sich in einer einzigen Generation die Einstellungen geändert haben: Ein Kind, das heute
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