Mysterium
Drink verlangte. Die Schleusen waren geöffnet worden und würden sich nicht ohne Kampf wieder schließen lassen. Es war sein Kampf und er würde ihn allein ausfechten müssen. Ironischerweise hatte dieser Ort, an den er gekommen war, um Hilfe bei seinem Kampf zu finden, das Gefühl hoffnungsloser Isolation verstärkt.
Es kostete Tom erhebliche Willenskraft, den Rest des Treffens auszusitzen. Die verschiedenen Stimmen mit ihren zu oft erzählten Geschichten und den uralten Witzen hallten bedeutungslos in seinem Kopf wider. Er stand kurz davor, in Panik zu geraten. Er spürte, wie sich auf seiner Stirn und der Oberlippe Schweißperlen bildeten, und er benutzte das Taschentuch, um sie diskret abzuwischen. Niemand achtete darauf Niemand sah genauer hin. Er hatte mit seiner eigenen, persönlichen Hölle zu tun – wie alle anderen hier mit der ihren.
Zum Schluss verließ er rasch den Raum und vermied das Gespräch, ja den Blickkontakt mit den Anwesenden; dann machte er sich mit forschem Schritt auf den Heimweg. Clare würde das Abendessen fertig haben, und Julia würde darauf warten, dass er zu ihr ins Zimmer kam und ihr Gute Nacht sagte. Er war ein glücklicher Mann, dass ihn ein solches Willkommen erwartete, und er sagte sich immer wieder, wie zufrieden er sein konnte.
Ohne dass er es gemerkt hatte, war er an einer Straßenecke stehen geblieben. Geradeaus, ein Stück vor ihm, war sein Zuhause. Zu seiner Linken war eine Straße, die zu mehreren Geschäften und Restaurants führte – und zu einigen Kneipen.
Während Tom dort stand, blickte er auf eine der Kneipen, auf das leuchtende Neonschild über dem Eingang, das so lebendig war, dass er glaubte, die Elektrizität summen zu hören und das Klirren von Eis in einem Glas, und er spürte den wärmenden Geschmack der Flüssigkeit im Mund und wie sie ihren Zauber verbreitete und das Schreien in seinem Schädel verstummen ließ, von dem er nicht wusste, wie er es sonst beenden konnte.
Nur ein Glas? Nur eines, um den Schrecken abzuwehren? Nur ein einziges Glas, und dann nach Hause?
Er blieb stehen, wo er war, und blickte in die eine Richtung, dann in die andere. Er wusste, dass es um mehr ging als darum, eine Entscheidung zu treffen. Diese Entscheidung wurde schon an irgendeiner Stelle in seinem Kopf getroffen, zu der er keinen Zugang hatte. Jetzt wartete er nur noch darauf wie die Entscheidung ausfiel.
Er wartete nur noch darauf zu erfahren, was er gleich tun würde – indem er es tat.
Er ging nach Hause.
44
Sie kamen um kurz vor halb zwölf am nächsten Vormittag, doch Hunt war schon auf sie vorbereitet.
»Ich hoffe, Sie haben in meiner Garage geparkt, Tom, wie ich es Ihnen gesagt habe.«
»Sicher. Das ist eine große Hilfe.«
Sowohl Tom als auch Clare hatten jedes Mal Schwierigkeiten gehabt, einen Parkplatz zu finden, wenn sie Julia zu einer Sitzung brachten oder sie abholten. Einmal war Clare abgehetzt in Hunts Praxis gestürmt und hatte sich entschuldigt, dass es eine halbe Ewigkeit gedauert hatte, einen Parkplatz zu finden. Daraufhin hatte Hunt ihnen den Code zu seiner privaten Garage gegeben, die Platz für zwei Wagen bot.
»Julia«, sagte Hunt, »warum gehst du nicht schon mal und unterhältst dich eine Weile mit Sally, während ich mit deinem Vater rede?«
Glücklich verschwand das Mädchen in Richtung des Büros von Hunts Empfangsdame, die sie sehr mochte. Hunt führte Tom ins Wartezimmer.
»Nun, wie fühlen Sie sich heute Morgen?«, fragte er. »Sie sehen jedenfalls viel besser aus.«
Tom lächelte. »Ich bin gestern Abend zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker gegangen. Ich habe es geschafft, nach Hause zu gehen, ohne einen Zwischenstopp in einer Kneipe einzulegen.« Er lachte kurz und selbstironisch auf »Ich hatte ganz vergessen, wie schlimm es sein kann.«
»Sie haben es geschafft. Das ist alles, was zählt.«
» Alles , worauf es ankommt? Das würde ich nicht unbedingt sagen«, erwiderte Tom. »Ich meine, wo genau stehen wir? Was müssen Sie mir so dringend erzählen?«
»Lassen Sie mir nur zehn Minuten Zeit mit Julia, mehr brauche ich nicht. Dann lasse ich sie von Sally zur Schule zurückbringen. Danach bin ich sofort wieder bei Ihnen.«
Tom nickte, setzte sich auf einen Stuhl und nahm sich eine Zeitung. Er war zu sehr abgelenkt, um konzentriert zu lesen, aber so war er wenigstens beschäftigt. Hunt schloss die Tür zum Wartezimmer hinter sich und ging über den Flur, wo er Julia schon fröhlich mit Sally Young plaudern
Weitere Kostenlose Bücher