Mysterium
den Weg durch diese dichten Zweige und Dornen gebahnt hatten. Doch kleinere Unannehmlichkeiten spielten jetzt keine Rolle.
Naomi hatte Recht: Ich hatte keine Schwierigkeiten, den Pfad zu finden. Wie sie gesagt hatte, war er steil, aber leicht zu erklimmen. Ungefähr auf halber Höhe fand ich Cassies Videokamera zerschmettert auf den Felsen. Sie musste ihr aus den Händen geflogen sein, als sie abgestürzt war, und auf dieser Seite der Erhebung aufgeschlagen sein, während Cassie auf der anderen Seite herunterfiel.
Ich sah nach oben und stieg weiter hinauf außer Atem jetzt, schwitzend und mit aufgeschrammten, blutenden Händen und Knien (ich trug damals kurze Hosen). Doch ich war wie betäubt gegen Schmerzen und spürte nichts, während ich mich nach oben kämpfte; ich war nur von dem panischen Gedanken erfüllt, nicht schnell genug zu sein.
Die Mädchen waren erstaunlich hoch geklettert. Solche körperlichen Abenteuer sahen ihnen gar nicht ähnlich, aber ich nahm an, dass sie von der spektakulären Aussicht angelockt worden waren, die sie dort oben erwartete. Als ich ankam, sah ich, dass sie in der Tat dramatisch war – ebenso wie die Felswand, die auf der anderen Seite erschreckend steil abfiel und in einem zackigen Überhang über einer Spalte endete, in der das Rauschen wild strömenden Wassers von den Wänden widerhallte.
»Cassie! Cassie!«
Ich schrie den Namen mit aller Kraft. Zunächst kam keine Antwort, dann hörte ich schwach ihre Stimme über das tosende Wasser hinweg.
»Hilfe … !«
Sie musste irgendwo hinter der Felskante sein, hinter die ich nicht blicken konnte. Vielleicht lag sie hilflos auf einem Sims, so schwer verletzt, dass sie nicht mehr klettern konnte.
»Wir kommen!«, rief ich.
Von Naomi, meinen Eltern und Charlie war nichts zu sehen, obwohl sie sich noch nicht allzu weit vom Lager entfernt haben konnten. Trotzdem, ich war allein. Ich musste handeln.
Ich konnte sehen, dass der Felshang genug Griffe und Haltepunkte bot, wenn jemand, der nicht zu schwer war, dort hinunterkletterte. Ein Erwachsener würde wahrscheinlich abrutschen und stürzen. Aber jemand von meiner Größe und meinem Gewicht, ein zehnjähriger Junge, der für sein Alter nicht besonders groß war, konnte es vielleicht riskieren. Ich atmete tief durch und machte mich an den Abstieg.
Wie alle Kinder wusste ich, wie man kletterte, und zum Glück hatte ich keine Angst vor der Höhe. Ich tastete mich mit den Zehen in meinen Sportschuhen voran, sah vor jedem Schritt nach unten und schaute jedes Mal, wenn ich die Hand bewegte, nach oben. Ich konnte Cassie immer noch rufen hören.
»Hilfe! Hilf mir!«
Zentimeter für Zentimeter bewegte ich mich auf die Kante zu. Es dauerte nicht so lange, wie ich befürchtet hatte – weniger als zwei Minuten. Ich schaffte es, mich herumzudrehen, indem ich meine Füße dort ließ, wo sie waren, und mich mit den Händen vortastete. Dann sah ich sie.
Sie krallte sich mit den Fingern an den Rand eines Felsens, ungefähr einen Meter unterhalb der Felskante, die von oben zu sehen gewesen war, und stützte sich mit den Füßen irgendwo ab. »Worauf stehst du?«, fragte ich sie. Ich musste immer noch schreien, damit sie mich über das Tosen des Wassers hören konnte, das hier noch lauter gegen die Felswände donnerte und rauschte.
»Ich weiß nicht! Ich kann nicht nach unten sehen!« Sie war gelähmt vor Angst – und nur das hielt sie aufrecht. Wenn sie sich bewegte, würde sie mit Sicherheit abstürzen. Als es mir gelang, über die Kante zu spähen, auf der ich nun ausgestreckt lag, sah ich, dass ihre Füße auf einem Felssims standen, das noch schmaler war als die Kante, an die sie sich mit den Fingern festklammerte.
Ich blickte wieder nach oben. Immer noch kein Zeichen von Hilfe. Wo blieben sie nur? Sie mussten doch bald hier sein!
»In Ordnung«, sagte ich, »beweg dich nicht. Ich versuche, dich hochzuziehen.«
»Nein! Das kannst du nicht! Wo ist Daddy? Hol Daddy!«
»Die anderen kommen gleich. Naomi holt sie.« Ich drehte mich langsam weiter herum, sodass ich meine Füße herunterlassen und auf die Kante setzen konnte, an die sie sich klammerte.
»Nein«, sagte sie noch einmal, »fass mich nicht an! Du bist nicht stark genug. Lass mich in Ruhe.« Ich sah nach oben. Immer noch niemand. »Nun mach schon«, drängte ich sie. »Ich bin stark genug.« Absichtlich langsam hob ich den rechten Fuß – und trat ihr mit aller Kraft auf die Finger. Cassie schrie, ließ aber nicht los. Ich
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