Mysterium
zu haben, um mit dem Wagen zu fahren.
Das Treffen fand in einem Schulgebäude statt. Er war mindestens vier Jahre lang nicht dort gewesen, sah aber auf den ersten Blick, dass sich nichts verändert hatte. Durch das eiserne Tor gelangte er auf den leeren Spielplatz; dann ging er auf zwei erleuchtete Fenster zu, hinter denen er fünfzehn oder zwanzig Männer und Frauen sah, die sich in einer Umgebung aus Bücherregalen und Kinderzeichnungen in leuchtenden Farben versammelt und die Tische zur Seite geschoben hatten, um Platz für mehrere Reihen von Klappstühlen zu schaffen. Wie immer wurden an alle Becher mit Kaffee verteilt, der so stark war, dass der Löffel beinahe darin stehen blieb. Tom fühlte sich wie ein Reisender, der nach langer Abwesenheit wieder nach Hause kam, wo er alles unverändert vorfand und so selbstverständlich wieder aufgenommen wurde, als wäre er nie fort gewesen.
Als er dort stand und in das Gebäude schaute, spürte er das überwältigende Verlangen, sich umzudrehen und zu verschwinden. Was er jetzt wirklich brauchte, war ein Drink und nicht eine Stunde oder mehr von: »Ich bin Bob – Frank -Joan – George, und ich bin Alkoholiker.« Oder diese nichts sagenden Sprüche an der Wand, die er vor sich sehen konnte: »Immer nur einen Tag auf einmal« oder »Du schaffst es!«.
»Hallo, Tom! Schön, dich zu sehen.«
Er drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam, und sah einen Mann in den Fünfzigern, groß, kräftig und mit dichtem weißen Haar. Tom erinnerte sich gut an diesen Mann, nicht aber an seinen Namen. Der Mann streckte die Hand aus, und Tom ergriff sie.
»Hallo, John«, begrüßte er ihn. Der Name war aus irgendeinem dunklen Winkel seines Gedächtnisses aufgetaucht.
»Kommst du mit?«
»Klar«, antwortete Tom, und sie betraten gemeinsam das Gebäude.
An diesem Abend gab es eine Gastrednerin, eine Frau namens Joyce, die das Treffen eröffnete, indem sie ihre eigene Geschichte erzählte. Sie war knapp über dreißig, attraktiv und gut gekleidet und beschrieb, wie sie erst vor wenigen Jahren auf der Straße gelandet war und Listerine-Flaschen gestohlen hatte, nur wegen des Alkoholgehalts. Sie erzählte von den verrückten Dingen, die Alkoholiker tun, um an einen Drink zu kommen, und von dem schrecklichen Gefühl, wenn man sich eingestehen musste, dass man sich selbst belogen hatte, was das Trinken anging.
Als Joyce geendet hatte, waren die anderen an der Reihe. Wie immer gab es ein paar gute Schauspieler, die ihre Dämonen mit routinierter Geschicklichkeit und Witz austrieben und die so unterhaltsam waren wie ein durchschnittlicher Komiker. Doch wie immer gab es auch andere, die Mühe hatten, die richtigen Worte zu finden, aber deren Bedürfnis, zu reden, fast mit Händen zu greifen war. Doch diesen Leuten wurde noch warmherziger für ihren Beitrag zu dem Treffen gedankt wie den guten Rednern, die vorher an der Reihe gewesen waren.
Plötzlich wurde Tom bewusst, wie sehr es ihn drängte, sich zu Wort zu melden, und wie verzweifelt er den Menschen in diesem Raum erzählen wollte, warum er sich in der vergangenen Nacht betrunken hatte. Aber zu welchem Zweck? Seine Geschichte war mehr als eine Geschichte von Alkoholabhängigkeit. Es war eine Geschichte, für die er gewissermaßen kein Recht besaß, sie mit dieser Gruppe oder sonst jemandem zu teilen.
Er war nicht einfach eine doppelte Persönlichkeit, so wie sie alle – eine trinkende und eine nicht trinkende. In ihm gab es eine viel schrecklichere Teilung: zwischen dem Mann, der seine Frau und sein Kind liebte und ein glückliches und anständiges Leben führte, und dem verrückten Mörder, dessen Hirn vom Alkohol so ruiniert worden war, dass er keine Kontrolle und keine Erinnerungen mehr daran besaß, wer oder was er war, oder welche unaussprechlichen Dinge er vielleicht getan hatte.
Seine Hölle war eine Hölle ohne Vergebung.
Jetzt wurde ihm ein seltsamer Schmerz in den Händen bewusst, und er bemerkte, dass er sie so fest zu Fäusten geballt hatte, dass die Fingernägel sich in die Handflächen gruben. Er öffnete die Hände und sah, dass sie an zwei Stellen blutig waren. Er holte ein Taschentuch hervor und knüllte es zusammen. Hätte er nicht befürchtet, ungewollte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wäre er noch im selben Augenblick aufgestanden und gegangen.
Aber wohin würde er gehen? In die nächste Kneipe. Mit einer Bestürzung, die ihn erschauern ließ, erkannte er, wie sehr es ihn noch immer nach einem
Weitere Kostenlose Bücher