Mysterium
Julia zu holen und sie ebenfalls in den Kofferraum des Wagens zu laden, der ihrem Vater gehört. Falls jemand beobachtet, wie der Wagen aus der automatischen Tür herauskommt – er sieht nur einen Fahrer in Hut und Mantel mit hochgeschlagenem Kragen, der genauso gut Tom Freeman sein könnte wie irgendjemand sonst. Doch soweit ich sehen kann, beobachtet mich niemand.
Es dauert zwanzig Minuten, um die Garage zu erreichen, die ich auf den Namen von Adam St. Leonard in Broadlands gemietet habe – eine trostlose Reihe von Häusern mit niedrigen Mieten, wo es die Leute nicht interessiert, was draußen vor sich geht, und die sich einen feuchten Kehricht darum kümmern, wer dort kommt oder geht. In dieser Garage ist ebenfalls Platz für zwei Wagen, obwohl dort bis jetzt nur einer abgestellt war, ein alter, schwarzer Mercedes. Auch der ist auf den Namen Adam St. Leonard zugelassen. Wenn er schließlich gefunden wird, werden nur die Fingerabdrücke Freemans und seiner Tochter zu finden sein – genauso wie der einzige Wagen, den man in dieser Garage entdecken wird, Tom Freeman gehört. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Tom Freeman hat viele Jahre lang ein unheilvolles, schockierendes Doppelleben geführt.
Nachdem ich drinnen bin und die Tür fest verschlossen habe, hebe ich die beiden bewusstlosen Körper aus dem Kofferraum von Toms Wagen und verfrachte sie in den Kofferraum des Mercedes. Dann klebe ich mir den Schnurrbart an, setze die dickrandige Brille und den Hut von Adam St. Leonard auf und begebe mich zu dem Haus in Grover’s Town, wo diese außergewöhnliche Geschichte begonnen hat.
DRITTER TEIL
Das Urteil
54
Toms erster Gedanke war, dass es wieder sein Traum sein musste: der Albtraum, den er so gut kannte. Doch in dem Traum gab es Licht – genug, um zu sehen, wo er war, und das Entsetzliche zu erblicken, das zu seinen Füßen lag.
Er hob eine Hand an die Augen, wobei er eine leichte Behinderung seiner Bewegungsfähigkeit spürte. Er merkte, dass er vollständig bekleidet war, bis hin zu den Schuhen. Er spürte seinen Körper, seinen Kopf, seine Arme und Beine und gelangte zu dem Schluss, dass er gar nicht verletzt war.
War er blind? Warum gab es kein Licht? Warum war es stockdunkel?
Wo war er überhaupt? Nicht im Bett – weder in seinem eigenen noch in sonst einem. Er war überhaupt nicht in irgendetwas oder auf irgendetwas. Er tastete um sich und er spürte die Umrisse einer Art Couch, die mit etwas bespannt war, das sich wie glattes Leder anfühlte. Seine tastende Hand fand den Fußboden nur wenige Zentimeter darunter. Der Boden hatte keinen Belag und fühlte sich an wie Beton.
Die Stille war vollkommen, wie eine luftdichte Hülle, die ihn einschloss – so eng und dicht, dass er einen Augenblick fürchtete, nicht nur blind, sondern auch taub geworden sein. Aber dann hörte er sich ängstlich rufen: »Ist da jemand?«
Keine Antwort. Nur das Geräusch seines eigenen Atems. Als er für einen Moment die Luft anhielt, konnte er nur noch den eigenen Herzschlag hören.
Er versuchte sich zu erinnern, was als Letztes geschehen war. Er hatte Julia zu ihrer Sitzung bei Brendan Hunt gefahren – es sollte eine der letzten Sitzungen sein, oder die letzte überhaupt. Er weiß noch genau, dass sie angekommen waren und dass er kurz mit Hunt gesprochen hatte, und Hunt hatte ihn gebeten, ein paar Minuten zu warten, weil er ihm etwas erzählen wollte.
War Hunt zurückgekommen? Tom kramte verzweifelt in seiner Erinnerung, spulte die Szene in seinem Kopf zurück, schaute sie sich noch einmal an, und noch einmal. Ja, Hunt war zurückgekommen. Tom wusste noch, dass sich die Tür geöffnet hatte, und er hatte hochgeblickt – und etwas Seltsames gesehen.
Was war das gewesen?
Noch einmal ließ er die Szene vor dem geistigen Auge ablaufen. In der Wiederholung wurde sie klarer. Hunt hatte irgendein Gerät in den Händen gehalten; Tom erinnerte sich jetzt an ein längliches Rohr aus Chrom oder etwas in der Art, mit einem kurzen, grauen Griff Tom wusste nicht, was es war, auch wenn er irgendwie das Gefühl hatte, das Ding zu kennen. Er wollte gerade aufstehen … und dann hatte er das Bewusstsein verloren.
Aber er war nicht ohnmächtig geworden; es war etwas anderes gewesen. Er erinnerte sich an seine Angst, einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt erlitten zu haben. Alles war wie in Zeitlupe abgelaufen. Seine Beine hatten nachgegeben. Er hatte versucht, sich aufzurichten, doch seine Glieder wollten ihm nicht
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