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Mysterium

Mysterium

Titel: Mysterium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ambrose
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Rückkehr vorwegzunehmen und mich darauf vorzubereiten. Ich hatte keine Zweifel, dass ich dann viel größere Schwierigkeiten haben würde, sie zu kontrollieren, als zuvor, denn es würde schwieriger sein, mit Melanie im Körper einer älteren Julia umzugehen, als im Körper eines kleinen Kindes.
    Also begann ich, mir mögliche Szenerien auszumalen und meine Reaktionen darauf abzuschätzen. Als Teil dieser Strategie achtete ich darauf mit den Eltern des Mädchens in Verbindung zu bleiben und ihre Entwicklung zu beobachten. Wir trafen uns gelegentlich auf einen Kaffee, telefonierten von Zeit zu Zeit oder liefen uns »zufällig« im Restaurant oder bei verschiedenen gesellschaftlichen Anlässen über den Weg: Saracen Springs war kein besonders großer Teich, und wir gehörten zu den größten Fischen darin. In unseren Gesprächen ging es immer hauptsächlich um Julia; nebenbei aber erfuhr ich auf diese Weise, was ihre Eltern vorhatten, wohin sie fuhren und so weiter, und alles wurde zur späteren Verwendung abgespeichert.
    Ob eine spätere Verwendung erforderlich war, hing allerdings von Melanie Hagan ab.

52
    Fünf weitere Jahre vergingen, bevor ich den Anruf von Tom Freeman aus Niagara Falls erhielt, in dem er mir mitteilte, dass Melanie wieder da sei. Zwei Tage später brachten sie ihre Tochter in meine Praxis. Tom hatte mir bereits am Telefon berichtet, dass die »Episode«, wie er es nannte, offenbar kurz nach ihrem Besuch bei Melanies Zuhause zum Abschluss gekommen sei. Julia hatte einige Dinge mitgenommen, von denen sie behauptete, dass es die ihren – Melanies – wären, zeigte aber kaum mehr Interesse an den Gegenständen und sprach auch nicht mehr über ihr »früheres« Leben.
    Obwohl ich das Kind im Laufe der vorhergegangenen fünf Jahre von Zeit zu Zeit gesehen hatte, so war es doch stets in ungezwungener Atmosphäre und zusammen mit seinen Eltern geschehen. Dies war das erste Mal, dass ich mit Julia allein war.
    Ich spürte sofort, dass sie trotz ihres scheuen Lächelns und ihrer schüchternen Art nervös war, als befürchtete sie, ich wollte ihr etwas zum Vorwurf machen, für das sie nicht verantwortlich war.
    »Entspann dich, Julia«, sagte ich, »wie wir es früher gemacht haben. Erinnerst du dich?«
    Sie nickte. Ich redete eine Weile, wobei ich sie in Wirklichkeit mittels verschiedener Techniken in eine leichte Trance versetzte, die ich bereits angewendet hatte, als sie jünger gewesen war. »Also«, sagte ich schließlich, »erzähl mir, was in Niagara Falls los war.«
    »Wir sind mit einem Schiff gefahren. Das war super! Wir mussten so ‘n Ölzeug anziehen, damit wir nicht nass wurden …«
    Ich ließ sie ein paar Minuten über ihre Ferien plappern, wobei sie Melanie kein einziges Mal erwähnte. Dann stellte ich ihr eine direkte Frage.
    »Seid ihr danach noch irgendwo hingegangen?«
    Sie schüttelte den Kopf, jedoch mit zusammengepressten Lippen und auf jene übertrieben entschiedene Weise, wie Kinder es tun, wenn sie etwas leugnen, statt einfach nur auf eine Frage zu antworten. Ich hakte nach.
    »Bist du nicht mit dem Bus gefahren und hast etwas gesucht … ?«
    Diesmal antwortete sie nicht, sondern starrte auf ihre Finger, die sie im Schoß verdrehte.
    »Julia? Hast du nicht ein bestimmtes Haus gesucht?«
    Ohne den Blick zu heben und ganz leise antwortete sie:
    »Ja.«
    »Was für ein Haus war es denn?«
    »Mein Haus.«
    Sie blickte immer noch nicht hoch.
    »Aber dein Haus ist doch hier, Julia, in Saracen Springs.«
    Ihre Stimme wurde lauter, entschiedener, und sie starrte unverwandt auf ihre Finger.
    »Nein, mein Haus. Ich wollte mein Haus sehen.«
    »Du meinst Melanies Haus?«
    Nun schaute sie mich an, und ihr Blick war so herausfordernd wie ihr Tonfall. Die Augen, in die ich sah, gehörten nicht mehr Julia; es waren die Augen einer verdorbenen Göre. Ich erkannte diesen Blick wieder.
    »Nein, mein Haus, du Wichser! Was glaubst du, mit wem du redest? Scheiß-Schneewittchen?«
    Wenn sie erwartet hatte, dass ich schockiert reagierte, wurde sie enttäuscht. Ich lächelte ruhig und sagte: »Hallo, Melanie.«
    Mein Mangel an Besorgnis brachte sie leicht aus der Balance, aber sie überdeckte es durch Aggressivität. »Glaub ja nicht, du könntest mich diesmal wieder in die Kiste sperren«, sagte sie. »Diesmal mach ich dich fertig, du verdammter Mistkerl!«
    Das war seitdem das Muster unserer Sitzungen. Für ihre Eltern und die Außenwelt blieb sie Julia. Bei mir, wenn wir unter uns sind, ist sie

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