Mystery Thriller Band 224
wurde ihr klar, dass sie es viel zu nüchtern und emotionslos betrachtet hatte. Was sie gleich erwartete, war schlimm, und die Frau, die die Leiche gefunden hatte, war zu bedauern.
Noch mehr zu bedauern sind allerdings die Angehörigen des Toten, die der Sheriff nachher aufsuchen muss, um sie über den Tod eines geliebten Menschen zu informieren. Über den Tod ihres Sohnes oder Ehemannes oder Vater …
Sie atmete tief durch und trat gemeinsam mit Brad näher. Ein kurzer Seitenblick auf ihren ehemaligen Klassenkameraden und jetzigen Kollegen verriet ihr, dass auch ihm dieser Gang nicht leicht zu fallen schien: Er bewegte sich auffallend langsam und mit starrem Blick voran, seine Miene war regungslos.
Sie erreichten den Sheriff und den anderen Mann, bei dem es sich um Dr. Grant handelte. Er war praktisch der Nachfolger ihres Dads, auch wenn er nicht die Praxis übernommen hatte. Melissa kannte ihn noch von früher. Sie nickte den Männern knapp zu, dann lenkte sie mit großer Überwindung ihren Blick auf die am Boden liegenden Leiche. Vor ihr auf dem Boden lag rücklings ein recht kleiner, schlanker Mann. Seine Augen starrten blicklos ins Leere, das verfilzte graue Haar war blutverschmiert. Melissa erkannte ihn sofort. Erschrocken schlug sie eine Hand vor den Mund. „Aber das ist ja …“
„Penner Harry“, führte Brad ihren Satz zu Ende. Er blickte zum Sheriff. „Welcher Dreckskerl ist dafür verantwortlich?“
Sheriff Latimer sah ihn ernst an. „Das herauszufinden, wird jetzt unsere Aufgabe sein. Dr. Grant hier sagt, dass der Tote bereits vor einigen Tagen mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen wurde, und zwar nicht hier. Hierher hat der Täter den Leichnam wohl nur geschleppt, um ihn zu verstecken. Das sagten Sie doch so, Doc?“
Dr. Grant, der zugleich auch der Leichenbeschauer des Gerichtsbezirks war, nickte. „So sieht es aus, Sheriff. Allerdings sind das lediglich erste Eindrücke. Mehr kann erst später gesagt werden. Ich …“
Melissa hörte nicht weiter zu. Sie wusste, dass es unprofessionell war, schließlich war sie nicht irgendeine unbeteiligte Zuschauerin, sondern arbeitete von jetzt an als Deputy in Deadman’s Landing. Aber sie konnte einfach nicht anders. Der Anblick des toten Obdachlosen vor ihr schockierte sie zu sehr.
Sie kannte Harry. Gut sogar. Jeder in Deadman’s Landing kannte Harry. Solange sie zurückdenken konnte, war er mit seinem Einkaufswagen durch die Gegend gelaufen und hatte alles eingesammelt, was ihm gefiel. Dass es sich dabei zumeist um wertlosen Schrott handelte, schien ihn nicht zu kümmern. Harry war seltsam gewesen, aber nett. Und für die Kinder im Ort hatte er stets ein freundliches Wort übrig gehabt. Dass er jetzt tot zu ihren Füßen lag, erfüllte sie mit fassungslosem Entsetzen.
Nun, wenigstens kannst du dir bei ihm sicher sein, dass er keine Angehörigen hinterlässt … Ein schwacher Trost, und …
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Brad sie unsanft mit dem Ellbogen anstieß. „Au, was …?“
„Der Sheriff redet mit uns, Melissa“, sagte Brad mit tadelnder Stimme.
„Oh!“ Melissa sah ihren Vorgesetzen an. „Entschuldigung, ich …“
Doch Sheriff Latimer winkte lächelnd ab. Offenbar schien er zu ahnen, was in ihr vorging. „Melissa, ich würde Brad und dich bitten, gleich morgen früh damit zu beginnen, die Bewohner von Dedmon’s Landing zu befragen. Wer hat Harry zuletzt gesehen, wann war das und wo war das? Das sehe ich im Augenblick als einzige Möglichkeit, etwas über die Hintergründe herauszufinden.“ Er nickte. „Jetzt fahrt ihr bitte zum Office und sagt Mrs Brooks, sie möge recherchieren, ob Harry vielleicht doch irgendwelche näheren Angehörigen hinterlässt, wovon ich aber nicht ausgehe. Alles klar?“
Melissa nickte und stieg wieder in Brads Wagen. Dort senkte sie den Kopf und schloss die Augen. Doch das Bild von Harry, wie er tot auf dem Rücken lag, verschwand selbst jetzt nicht.
Nur beiläufig nahm sie wahr, wie Brad losfuhr. Natürlich, sie hatte immer gewusst, dass sie in ihrem Job schlimme Dinge sehen würde. Doch wenn sie ehrlich zu sich selbst sein wollte, musste sie zugeben, dass sie natürlich nicht erwartet hätte, direkt an ihrem ersten Diensttag in Deadman’s Landing mit dem Anblick eines toten Menschen konfrontiert zu werden.
Noch dazu mit einem Menschen, den sie kannte.
Sie seufzte. Es war seltsam, aber irgendwie schien es wirklich so zu sein, dass, wenn einmal in diesem Ort etwas geschah, die
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