Mystic City Bd 1 - Das gefangene Herz
ich die Luft angehalten habe. Ich atme aus, sauge meine Lunge voll und richte den Blick auf den Mystiker, der nun, nach dem Erlöschen des Lichts, mit den Händen in den Taschen mitten auf der Straße steht, so als wäre nichts geschehen. So als wäre er irgendein Passant. Als wäre er normal.
Aufständische Mystiker sind Gesetzlose. Sie sind gefährlich und müssen sofort gemeldet werden. Ich weiß das aus Tausenden von öffentlichen Bekanntmachungen. Aber …
Dieser Mystiker hat mir gerade das Leben gerettet. Er sieht mich an und fragt: »Alles in Ordnung?« Seine Stimme klingt tief und weich wie Honig. Seine Schönheit aber trifft mich wie ein Schlag: Seine Augen sind tiefblau, satter als der Sommerhimmel, doch nicht so dunkel wie der Ozean. Sein Haar ist von der Sonne gebleicht. Kräftige Augenbrauen. Eine schöne Nase. Ein ausgeprägtes Kinn.
»Ich bin verletzt«, bringe ich mühsam hervor. Plötzlich fühle ich mich ganz benebelt.
»Lass mich mal sehen«, sagt er. »Streck den Arm aus.«
Er nimmt meine Hand. Eine berauschende Wärme breitet sich in mir aus.
»Halt still.« Er berührt die Wunde mit den Fingern. Er leuchtet von innen heraus, wie ein Stück Kohle, wenn man es aus dem Feuer zieht. Das Leuchten lässt den Körper wie ein Negativ erscheinen – den sich abzeichnenden Knochenbau, Haut, Kleidung. Für einen Augenblick scheint er ganz aus Licht gemacht.
Meine Haut fühlt sich sengend heiß an. Als er die Finger hebt, ist der Schnitt an meinem Arm verheilt. Sogar das Blut ist verschwunden.
»Ich … ich …«
Sein Lächeln ist bezaubernd und tröstend zugleich. »Gern geschehen«, sagt er, streicht sich eine Haarsträhne aus den Augen und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Sirenen ertönen und ein besorgter Ausdruck huscht über sein Gesicht. Die beiden Jungen, die auf den Asphalt geschmettert wurden, regen sich langsam. »Wir müssen verschwinden, ehe sie aufwachen. Komm.« Mit seinem starken Arm umfasst er meine Taille und zieht mich zu sich heran.
Also tue ich genau das, was jedes Mädchen tun würde, dem gerade in der Unterwelt von Manhattan ein echter Traumjunge das Leben gerettet hat: Ich lasse mich von ihm davonführen.
4
»Großer Becher. Schwarz.« Die Kellnerin nickt dem Jungen zu und sieht mich an. In dem kleinen Laden gibt es keine Karte. Es ist genau die Sorte Lokal, an der ich sonst vorbeigegangen wäre – unscheinbar und dunkel von außen. Auf der Markise steht JAVA RIVER .
Drinnen ist es dagegen hell und sauber. In den blau gepolsterten Sitznischen haben sich die unterschiedlichsten Gäste versammelt: überwiegend Familien, aber manche Besucher genießen ihr Gebäck oder ihren Kaffee auch allein. An den cremefarbenen Wänden hängen gerahmte Gebirgsfotos.
»Für mich das Gleiche«, sage ich. Die Kellnerin, ein Pummelchen mit schwarzen Locken und Nasenpiercing, nickt und schlendert davon.
Ich widme meine Aufmerksamkeit wieder meinem Retter. »Danke dafür, dass … du mich getragen hast.«
Sein Gesicht zeigt keine Regung. Ich fühle mich wie eine Idiotin. Seit ich ein Baby war, hat mich niemand mehr auf den Armen getragen. Kein Junge in meinem Alter. Und erst recht kein Mystiker.
Aber als er mich von diesem schrecklichen Ort wegbrachte, hatte ich keine Kraft zur Gegenwehr mehr in mir. Ich habe einfach die Augen geschlossen, meinen Kopf an seine Schulter gelehnt und mich entspannt. Es tat mir gut, mich für einen Moment in die Hände eines anderen Menschen zu geben, und wenn auch nur für die Dauer eines kurzes Fußwegs.
Der Mystiker verzieht noch immer keine Miene. Er hat seine Kapuze aufgesetzt, als wollte er inkognito bleiben. Jetzt bemerke ich auch kleine Schönheitsfehler. Seine Nase ist ein wenig krumm, als hätte er sie sich bei einer Schlägerei gebrochen und vom Arzt nicht ordentlich richten lassen. An der linken Augenbraue hat er eine kleine Narbe. Seine Wangen sind mit hellen Stoppeln übersät. Ein rauer Typ, ganz das Gegenteil von Thomas, der immer makellos gekämmt und rasiert ist.
Dieser Junge hier gehört offenbar zu jenen Menschen, die einen auf den zweiten Blick überraschen. Vorhin auf der Straße habe ich ihn einfach nur für schön gehalten, so wie das Porzellan oder die farbigen Diamanten, die meine Mutter im Familientresor aufbewahrt. Aber ich habe mich getäuscht. Seine Züge sind zu hart, als dass man sie schön nennen könnte, zu geheimnisvoll. So ein Junge schlägt dich in seinen Bann, zwingt dich, all deine Geheimnisse preiszugeben; und
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