Mystic City Bd 1 - Das gefangene Herz
das ist dir vollkommen egal, wenn er dir nur seine Aufmerksamkeit schenkt.
Dieses Gesicht ist gefährlich, genauso gefährlich wie sein Charakter. Und das liegt nicht allein daran, dass er ein Mystiker ist. Er hat mich völlig in der Hand. Ich weiß nicht, ob ich mich zu ihm hingezogen fühle oder ihn fürchte. Oder beides zugleich.
Er wirkt ruhig. Niemand würde vermuten, dass er gerade einen harten Kampf ausgetragen hat. Er trägt ein rotes T-Shirt und eine Jeans, dazu einen blauen Hoodie. Anders als die Mystiker, deren Energie abgeschöpft wurde, strahlt er Kraft und Vitalität aus.
Von Abbildungen, aus der Schule und auch aus persönlichen Begegnungen weiß ich, dass registrierte Mystiker meist kränklich wirken. Die sogenannten »Abschöpfungen« zehren sie aus, deshalb haben wir von ihnen keinen Aufstand mehr zu fürchten. Ohne ihre mystische Kraft können sie niemandem etwas zuleide tun und das bedeutet Sicherheit für die Menschen in den Horsten.
»Wo sind wir?«, frage ich.
»Im Java River .« Er deutet auf den Schriftzug an der Wand.
»Das weiß ich«, sage ich und sehne mich nach dem verlorenen Mantel. Ich könnte mich darin verstecken. Niemand scheint mir besondere Aufmerksamkeit zu widmen, trotzdem kommt es mir so vor, als würden mich alle anstarren. Oder vielmehr: uns beide. Vielleicht bin ich paranoid. »Aber wo sind wir?« Ich deute zum Fenster. Nach draußen.
Er lehnt sich zurück. »Ach, so. Wir sind in der Nähe des Prächtigen Blocks.«
Ich reiße die Augen auf. »Was?«
»Ja«, antwortet er. »In der Nähe. Aber nicht drin. Keine Sorge, du bist in Sicherheit.« Er sieht mich seltsam an. »Was hast du denn gedacht?«
Darauf weiß ich keine Antwort. Auf jeden Fall hätte ich nie vermutet, dass wir so nah am Block sind. Ich hatte mir die Gegend viel heruntergekommener vorgestellt. In Wahrheit sehen die Leute hier nicht viel anders aus als ich. Sie wirken geradezu normal.
»Dies ist einer der wenigen Läden außerhalb des Blocks, in die wir reindürfen«, sagt er. »Es ist eigentlich nicht legal … aber die Besitzer sind anständige Leute. Alle anderen Lokale haben Überwachungsscanner am Eingang, damit die Mystiker nicht reinkönnen.«
»Auch die Abgeschöpften nicht?«
Er nickt.
»Hast du mich deshalb hergebracht?«
»Klar. Außerdem ist der Kaffee hier gut.«
Ich sehe mich um. Die Gäste im Java River kommen aus allen Schichten. Einige Jungen und Mädchen sind in meinem Alter. Keiner der Gäste wirkt wie ein Krimineller.
Aber es ist wahr: Ihr Teint ist fahl, ihre Haut dünn wie Papier. Die Abschöpfung hat sie sichtlich geschwächt. Aber ich kann in ihnen nicht die Monster erkennen, vor denen man mich schon als Kind gewarnt hat – den Abtrünnigen und den Erschöpften, die angeblich in den Straßen des Prächtigen Blocks herumlungern. Dieses Märchen haben mir meine Eltern eingeredet.
Die Mystiker werden ungerecht behandelt. Wenn ihre Energie abgeschöpft ist, sind sie keine Gefahr mehr. Dann können die doch eigentlich gehen, wohin sie wollen.
Der Junge scheint meine Gedanken zu lesen. »Das hast du nicht erwartet, oder?«
»Nein.«
Die Kellnerin kommt mit dem Kaffee und stellt die Becher vor uns ab. Er trinkt sofort einen Schluck, doch ich rühre meinen mit dem Löffel um, damit er etwas abkühlt.
Eine Weile sitzen wir nur so da. Ich sollte aufbrechen. Es ist spät und ich muss Thomas finden. Und dennoch zwingt mich etwas hierzubleiben.
Ich räuspere mich. »Danke, dass du mich gerettet hast. Und dass du meinen Arm wieder in Ordnung gebracht hast.« Eigentlich müsste ich sagen: Weil du deine besonderen Kräfte dazu benutzt hast, um meine Wunde zu heilen. Aber ich wage nicht, das laut zu sagen, denn ich habe Angst, jemand könnte es hören. Nicht registrierte Mystiker sind Illegale. Solche Leute werden von meinem Vater verfolgt. Wenn er wüsste, dass ich jetzt in der Tiefe bin und einem Mystiker gegenübersitze …
»Gern geschehen.«
Er beugt sich vor. Seine Iris hat am Rand hellblaue Tupfen. Er nippt an seinem Kaffee.
»Ich heiße Aria.«
»Das italienische Wort für eine Gesangspartie in der Oper.« Er spricht so leise, dass ich ihn kaum verstehe.
»Ja, stimmt. Meine Mutter ist ein Opernfan.«
»Hat sie eine Lieblingsoper?«
Ich blinzele. »Kennst du dich mit Opern aus?«
»Traust du mir das nicht zu?«
»Doch, es ist nur …«
»Du meinst, ein Mystiker versteht nichts von Kunst und Kultur.« Er klingt müde und verbittert. »Was bringen sie euch da oben
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