Mystic City Bd 1 - Das gefangene Herz
nicht ein bisschen jung?«
Thomas steckt sich mit der Gabel eine Muschel in den Mund. »Es heißt, die Kräfte eines Mystikers sind mit dreizehn ausgereift. Aber wenn das nun Unsinn ist? Da draußen könnte ein Haufen gefährlicher kleiner Missgeburten herumlaufen. Da müssen wir doch einschreiten, bevor noch ein Unglück geschieht, meinst du nicht auch?«
Er erwähnt diesen Plan völlig beiläufig. Ich stelle mir unwillkürlich die Gäste im Java River vor; die meisten von ihnen waren bestimmt Mystiker. Schon zwei Abschöpfungen im Jahr zehren an ihnen; wie sehr werden sie leiden, wenn sie viermal abgeschöpft werden oder gar das Mindestalter für die Prozedur gesenkt wird? Sie könnten schwer krank werden und sogar sterben.
»Vielleicht sollte man ihnen gestatten, einen Teil ihrer Kräfte zu behalten. Wäre das denn so schlimm?« Hunter kommt mir in den Sinn: Er drückte seine Finger auf mein Handgelenk und meine Wunde verheilte sofort. Auf diese Weise hat er mit seiner Kraft Gutes bewirkt.
»Machst du Witze?« Thomas legt seine Gabel auf den Teller. »Die Mystiker haben eine Bombe gezündet, die einen großen Teil von Lower Manhattan zerstört hat. Oder hast du das Große Feuer vergessen? Ihre Kräfte bringen Verderben. Sie wollen uns töten. Und du schlägst vor, Ihnen ihre Macht zu lassen? Schon ein Quäntchen wäre zu viel.«
Ich schüttele den Kopf. »Das habe ich nicht gemeint.«
»Was hast du dann gemeint?«
»Ich habe gemeint … vielleicht wollen uns nicht alle Mystiker umbringen.«
Thomas lacht laut auf. »Mach dich doch nicht lächerlich. Die Mystiker würden uns am liebsten tot sehen, damit sie die Stadt übernehmen können.« Er beugt sich vor. »Besonders dich.«
Unser Kellner räumt die leeren Vorspeisenteller ab und bringt vor dem ersten Gang noch ein Trou Normand, ein Apfelsorbet mit Calvados.
»Findest du es nicht etwas heiß hier?«, frage ich.
Thomas schüttelt den Kopf.
»Mir ist nämlich ganz schön … heiß«, sage ich und tupfe mir mit der Serviette die Stirn ab. Meine Haut juckt, nein, sie kribbelt eher, als würde mich jemand von innen mit einer Nadel piksen.
»Wusstest du«, sagt Thomas und wischt sich die Mundwinkel ab, »dass mystische Arbeiter sogar versuchen eine Art Gewerkschaft zu gründen? Mark Goldlit hat im Rat eine ihrer Forderungslisten gesehen. Die wollen Urlaub – kannst du dir das vorstellen? Und Violet Brooks unterstützt diesen Unfug. Wenn wir zulassen, dass sie bei den Wählern einen Fuß in die Tür bekommt, werden bald alle Armen eine Stimmenvertretung in der Regierung haben wollen, und was passiert dann? Leider kann man den Mystikern nicht einfach das Wahlrecht entziehen, so wie man ihre die Kräfte abschöpft. Sonst brauchten wir uns wegen der Wahl ja keine Sorgen zu machen.«
Ich will etwas Bissiges erwidern, bremse mich jedoch und lasse mich stattdessen von dem Sorbet betäuben. Thomas ist genau wie sein Bruder. Der wiederum genau wie sein Vater ist, der meinem Vater allzu sehr ähnelt. Die Mystiker zu unterstützen, ist Hochverrat. Früher konnte ich Thomas offenbar so sehr vertrauen, dass ich mich in ihn verliebt habe. Was hat sich verändert? Okay – meine Überdosis. Mein schlechtes Gewissen holt mich ein. Thomas benimmt sich vermutlich meinetwegen so seltsam. Weil ich alles vermasselt und ihn vergessen habe. Uns vergessen habe. Wahrscheinlich hat er keine Ahnung, was er machen soll.
Thomas nimmt einen Löffel Sorbet. »Gut, nicht wahr?«
Je mehr er redet, desto mehr Bruchstücke von – was? Erinnerungen? – erwachen zum Leben: Lippen streichen über meine Wangen, eine starke Hand liegt auf meiner Taille. Laufen. Verstecken. Der Salzgeschmack des Wassers aus der Tiefe.
Kommt da meine Vergangenheit wieder nach oben? Sind es jene Gefühle für Thomas, die mich einmal dazu gebracht haben, alles aufs Spiel zu setzen: die Liebe meiner Eltern und meines Bruders, die Zuneigung meiner Freunde. Und das alles nur, um mit ihm zusammen zu sein?
Was immer in Dr. Mays Spritzen war: Es wirkt. Wenn ich Thomas ansehe, kribbelt meine Haut vom Scheitel bis zur Sohle. Ich will über den Tisch springen, ihm die Krawatte herunterreißen, sein Kinn küssen, seine Lippen. Wie kann sein Körper mich so anziehen, wenn seine Worte mich so abstoßen?
»Trink doch was.« Thomas schiebt mir sein Wasser hin. »Du siehst aus, als würdest du glühen. Ist dir unwohl?«
Ich stürze das Wasser herunter. »Nein, nein, alles gut.« Links von uns bemerke ich ein älteres
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