Mystic City Bd 1 - Das gefangene Herz
verrottende Tore blockiert. Gelbgrüne Algen wachsen an den Gebäuden und treiben im Wasser wie Haar in der Badewanne.
Schließlich hält mein Gondoliere an einem wackligen Holzanleger, wirft das Tau wie ein Lasso über einen der Pfosten und zieht das Boot ans Ufer. Ich bezahle ihn und steige aus. Ehe ich mich bedanken kann, hat er die Vertäuung schon wieder gelöst und fährt davon.
In einigen Wohnungen über mir brennt Licht, eine Wäscheleine ist über den schmalen Kanal gespannt. Unterhemden flattern im warmen Wind. Zwischen den hohen Gebäuden pulsiert das Licht der mystischen Türme rund um den Prächtigen Block.
Ich denke an Tabitha – folge den Lichtern . Leichter gesagt als getan. Ich weiß ja nicht einmal, wie ich zu Lyricas Wohnsitz komme: 481 Columbus Avenue.
An den Ziegelmauern wechseln Wahlkampfplakate und geschmierte Hassparolen einander ab. Auf den Postern wurden die Namen FOSTER und ROSE durchgestrichen oder durch Schimpfwörter ersetzt. Ich ziehe meine Kappe tiefer in die Stirn, um diesmal auf keinen Fall erkannt zu werden.
Obdachlose jeden Alters scheinen hier zum Straßenbild zu gehören. Sie haben wettergegerbte Gesichter, müde Augen, ihre Haut ist schmutzig. Es sind keine Mystiker. Warum helfen wir Reichen aus den Horsten ihnen nicht?
»Haben Sie sich verlaufen?«, fragt mich eine Passantin.
Ich nicke. »Ich suche die 481 Columbus Avenue.«
Sie zeigt mir den Weg. Ich bedanke mich und gehe weiter.
Jetzt tauchen andere Wahlplakate auf. Ich betrachte eines von ihnen genauer. Dieses Poster – wie auch die anderen in unmittelbarer Nähe – wurde nicht von Vandalen beschmiert. Es zeigt eine lächelnde blonde Frau. Sie muss ungefähr im Alter meiner Mutter sein, trägt einen dunkelblauen Blazer und eine weiße Bluse. Ihr Gesicht strahlt Intelligenz und Warmherzigkeit aus. Ihre Stimme für den Wandel, steht darunter. Ihre Stimme für Violet.
Das ist also Violet Brooks. Die Mystikerin, die gegen Garland antritt. Irgendwie kommt sie mir bekannt vor, allerdings habe ich keine Ahnung, woher.
Die schmale Gasse mündet in eine Hauptstraße, wo mehrere Brücken über einen breiten Kanal zum Prächtigen Block führen. Der Wasserweg umschließt das Getto wie ein Burggraben. Hinter einer massiven Steinmauer ragen windschiefe Gebäude empor.
Hier kann ich die Hausnummern wieder lesen. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und beschleunige meine Schritte. Nummer 477. Ziegelbau, früher rot, jetzt braun von Dreck. 479 ist ein Gebäude mit einer schäbigen blau-weißen Markise. Das nächste Gebäude sollte 481 sein. Allerdings steht da 483. Was ist denn hier los?
Die Holztür sieht so aus, als würde sie auseinanderfallen, wenn man etwas fester anklopft. Ich spähe durch das Fenster daneben ins Haus. Da ich durch die Schmutzschicht nichts erkennen kann, wische ich mit der Hand ein kleines Fleckchen sauber – meine Fingerspitzen sind sofort schwarz. Der Raum scheint leer bis auf das knöchelhoch stehende Wasser. Hier ist niemand zu Hause.
Ich gehe zurück zu 479. Die Tür ist hinter einem Eisengitter verborgen. Daneben gibt es eine Klingel mit Bronzeknopf. Ich drücke drauf. Vielleicht gab es früher mal eine 481. Hat mir Tabitha die falsche Adresse gegeben?
Ich bin maßlos enttäuscht. Ich habe den weiten Weg hierher gemacht und dabei einiges riskiert, nur weil ich auf Lyricas Hilfe gehofft habe. Und jetzt scheint nicht einmal ihre Adresse zu existieren.
Ein letztes Mal gehe ich die Straße ab und drücke gegen einen Ziegelstein, dort wo eigentlich die Nummer 481 sein sollte. Seine Oberfläche fühlt sich rau an. Mit dem Zeigefinger ziehe ich eine unsichtbare Linie und seufze.
Da bewegen sich die Gebäude plötzlich. Nur ein leises Ächzen ist zu hören und die Ziegel gleiten langsam auseinander, bis ein kleines und sehr einladend wirkendes Gebäude erscheint. Niemand, nicht einmal die Obdachlosen, schenkt dieser wundersamen Erscheinung Beachtung. Vielleicht hat außer mir niemand etwas gemerkt.
Die orangefarbenen Außenwände sind mit Stuck verziert, zwei große Fenster befinden sich auf der Straßenseite. Hinter den Scheiben flackert Kerzenlicht. Eine Metalltür schwingt auf, eine Frau, wahrscheinlich Lyrica, erscheint.
Als sie den Mund zum Sprechen öffnet, sehe ich, dass ihr ein paar Zähne fehlen und ihr Zahnfleisch schwarz ist. »Hast du geklingelt?«, fragt sie.
Im Haus riecht es wunderbar nach Zimt. Ich folge Lyrica eine große Holztreppe hinauf und einen Zickzack-Flur entlang zu
Weitere Kostenlose Bücher