Mystic City Bd 1 - Das gefangene Herz
können Wasser mit dem Finger erhitzen?« Im Grunde überrascht es mich nicht, dass sie Magie wirken kann.
Lyrica lacht. »Du glaubst wohl, das ist nur so ein lahmer Hokuspokus. Täusch dich nicht: Derselbe Finger, der dieses Wasser zum Kochen gebracht hat, kann dir ein Loch in die Haut oder in den Schädel brennen. Er kann dein Hirn binnen Sekunden verdampfen lassen.« Sie genießt meine verstörte Miene. »Aber ich kann auch ein Brot toasten, indem ich es zwischen die Handflächen lege. Das ist sehr praktisch.« Wir nehmen gleichzeitig einen Schluck Tee. Er schmeckt nach Orangen und Minze. Sehr lecker.
»Nun, haben Sie was Interessantes in meinem Kopf gefunden?«
Lyrica stellt ihren Becher ab. »Ich will offen zu dir sein. Das ist am besten.« Sie holt tief und dramatisch Luft und einige der Kerzen im Flur flackern. »Jemand hat dein Gedächtnis manipuliert. Aber er hat die Behandlung nicht richtig zu Ende geführt.«
»Was meinen Sie damit?«
»Lass mich raten: Du hattest eine Operation. Stimmt das?«
»Nicht direkt eine Operation.« Ich denke an meinen Besuch bei Dr. May. »Aber ich war in einer Maschine und habe eine Menge Spritzen bekommen. Danach konnte ich mich ein bisschen besser erinnern, aber diese Erinnerungen kamen mir irgendwie … fremdartig vor.«
Da waren das Abendessen mit Thomas, die merkwürdige Stimme in meinem Kopf, meine Verliebtheit und ein intensives Gefühl des Begehrens. Und auf einmal waren all diese Empfindungen wie weggeblasen. Ich erinnere mich daran, wie Thomas mir von unserem ersten Date in der Gondel erzählte. Dabei entstand ein Bild in meinem Kopf, aber die Farben waren falsch und nichts fühlte sich natürlich an.
»Dieser Erinnerungsschub ist noch gar nicht lange her«, sage ich. »Allerdings fehlt mir noch immer ein Teil meines Gedächtnisses. Und ich kann keine Verbindung zwischen meinem Zusammenbruch und dem Erinnerungsverlust herstellen.«
»Vielleicht glaubst du, dass du nur einmal beim Arzt warst und nur einen Eingriff hattest«, sagt Lyrica und schiebt die spröde Unterlippe vor. »Hier unten nennen wir das manipulative Magie. Erzähl mir von deinem Zusammenbruch.«
»Genau da fehlt mir die Erinnerung«, gebe ich zu. »Ich habe eine Überdosis Stic genommen. Man hat mir erzählt, die Ärzte konnten mich nur knapp vor dem Tod retten.«
Sie unterbricht mich mit einem heftigen Kopfschütteln. »Du hast noch nie Stic genommen. Das verrät mir dein Körper. Ich habe gerade darin gelesen. Ich habe mir deine Organe und dein Blut angeschaut. Nirgends findet sich auch nur die geringste Spur von mystischer Energie.«
»Sind Sie sicher? Man hat mir gesagt …«
»Wer auch immer das behauptet, macht dir was vor«, meint Lyrica. »Es waren mindestens zwei Eingriffe: Der erste hat die alten Erinnerungen gelöscht, der zweite sollte neue implantieren.«
Mir stockt der Atem. Ich habe keine Überdosis Stic genommen. Mir wurde durch einen medizinischen Eingriff ein Teil des Gedächtnisses entfernt.
Thomas. Jetzt wird mir alles klar.
»Man hat zwar erfolgreich ausgewählte Erinnerungen aus deinem Gehirn gelöscht, aber die künstlichen Erinnerungen wurden nicht richtig eingesetzt. Deshalb wurde ein weiterer Eingriff durchgeführt«, erklärt Lyrica. »Und soweit ich sehe, war auch dieser nicht erfolgreich.«
Was hat meine Mutter noch zu Dr. May gesagt? Das letzte Mal ist es total danebengegangen.
Aber warum hat man das getan? Warum haben meine Eltern mir die Lügengeschichte von einer Überdosis Stic erzählt?
»Kann ich die alten Erinnerungen wieder zurückbekommen?«.
»Nur, wenn sie gespeichert wurden, bevor man sie entfernt hat. Es gibt Möglichkeiten, Erinnerungen zu komprimieren, zu speichern und zu verstecken für den Fall, dass sie wieder benötigt werden. Aber das hat nichts mit Medizin zu tun – das ist Magie. Und zwar eine sehr komplizierte Form der Magie.« Sie nippt an ihrem Tee. Ein Blick in meine Tasse sagt mir, dass ich, ohne es zu merken, alles ausgetrunken habe. »Wenn du das Behältnis findest, in dem deine ursprünglichen Erinnerungen aufbewahrt werden, kannst du sie vielleicht befreien. Doch das ist eine heikle Angelegenheit. Und ziemlich gefährlich.«
Meine Hoffnungen schwinden. Ich habe geglaubt, hier eine schnelle Lösung zu finden.
»Eine Frage habe ich noch«, sagt Lyrica. In ihren Augen ist ein überirdisches Glitzern. »Was für Erinnerungen könnten das sein, die jemand um jeden Preis beseitigen will?«
Das plötzliche Schweigen lastet
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