Mystic City Bd 1 - Das gefangene Herz
neuen Anstrich vertragen.
Da fallen mir die Wahlplakate ein, die ich auf dem Weg zu Lyrica gesehen habe. »War er mit Violet Brooks verwandt?«
»Klar«, sagt Hunter. »Sie ist seine Tochter.«
Ich bleibe einen Moment stehen. In einem der Häuser vor uns brennt Licht. Ein junger Mann, eine Frau und ein Kind sitzen am Tisch und essen.
»Bei der Explosion damals sind auch viele Mystiker umgekommen«, sagt Hunter. »Das waren alles Unbeteiligte. Nach dem Großen Feuer hat die Stadt übrigens mit den Abschöpfungen begonnen.«
Hunter bleibt neben mir stehen. »Das sind die Terradills, Elly und Nic. Sie haben ein Baby, fünf Monate alt. Nic verdient sein Geld mit Gondelfahren. Zusammen mit ein paar anderen besitzt er ein eigenes Boot.«
»Bist du mit ihnen befreundet?«, frage ich.
Hunter hält kurz inne. »Befreundet? Das wäre übertrieben. Im Block kennt jeder jeden. Das ist wie auf dem Dorf.«
Im Vorübergehen zeigt mir Hunter die Häuser anderer Mystikerfamilien. Sie arbeiten als Gondel- und Wassertaxifahrer, als Verwaltungsangestellte, Müllmänner und Handwerker. So wie Hunter über sie spricht, scheint er sie alle gut zu kennen.
»Auch hier gibt es Unterschiede. Je mehr eine Familie verdient, desto näher wohnt sie am Zentrum, an der Großen Wiese.« Er mustert meine Handtasche und meine Schuhe. »Reichtum ist natürlich relativ. Im Vergleich zu den Bewohnern der Horste haben wir hier so gut wie nichts.«
Ich lächele unsicher. Hunter will es wohl nicht allzu deutlich auszusprechen, aber es lässt sich nicht leugnen: Meine Familie ist für die Not der Menschen hier mitverantwortlich. Plötzlich wird mir flau im Magen.
»Und wo wohnst du?«, versuche ich das Thema zu wechseln. »Da vorn, wo gerade gefeiert wird?«
Hunter umgeht meine Frage. »Komm«, sagt er. »Ein Stück weiter gibt es einen AP , gleich draußen hinter der Mauer.«
»Warte«, sage ich, als er meine Hand ergreift. Unsere Finger berühren sich und meine Haut fängt an zu kribbeln.
Er zieht die Hand zurück. »Tut mir leid. Manchmal vergesse ich, wie gefährlich meine Berührungen sein können. Ich bin nicht gewöhnt an den Umgang mit …«
»Nichtmystikern?«
Hunter grinst breit. »Ich wollte eigentlich sagen: Mädchen. Aber okay: auch nicht an den mit Nichtmystiker.«
Ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. Glücklicherweise merkt Hunter das im Dunkeln nicht. »Das muss dir nicht leidtun. Sei nur vorsichtig.« Ich habe mich schon lange nicht mehr so ruhig und entspannt gefühlt wie ausgerechnet hier – in einer mir fremden und gefährlichen Gegend. Das hat mit meinem Besuch bei Lyrica, aber besonders mit Hunter zu tun. »Ich will noch nicht nach Hause«, sage ich.
Hunters Miene hellt sich auf. »Ehrlich?«
In diesem Moment ist aus dem Himmel ein Knallen wie von einer explodierenden Minirakete zu hören. »Was ist das eigentlich die ganze Zeit für ein Lärm?«
»Der Karneval«, sagt Hunter. »Wir feiern zwar nicht oft, aber wenn, dann richtig. Alle sind fröhlich und vergessen ihre Sorgen. Jedenfalls für eine Nacht.«
»Was ist Karneval?«
Hunter wirkt verblüfft. »Das kann doch nicht dein Ernst sein. Du warst noch nie beim Karneval? Dann musst du dir unbedingt noch ein bisschen Spaß gönnen, bevor du heimgehst.«
Ich habe noch nie so ein Spektakel gesehen. Der Karneval ist wie eine riesige Einsturzparty, bloß feiert man dabei nicht die Zerstörung, sondern das Leben.
Hunter führt mich durch ein Labyrinth aus Buden, in denen Mystiker ihre Waren anbieten – Schmuck, kleine Puppen und Holzschuhe, aber auch Brötchen, Muffins und Schokolade. Kleider aus dünnem Stoff flattern im Wind, daneben gibt es Hüte, Handschuhe, Gürtel und mehr.
Manche bieten tellerweise Krapfen an, die Hände der Bäcker sind mit Puderzucker bestäubt. »Schau mal!«, rufe ich Hunter zu. Über einem Wasserbecken sitzt ein junger Mystiker in einer versenkbaren Vorrichtung und wartet darauf, untergetaucht zu werden. Er ist klitschnass, es hat ihn wohl schon mal erwischt. Ein Stück weiter vorn hat sich eine Gruppe von Kindern in einer Reihe aufgestellt. Sie zielen abwechselnd mit winzigen Bällen auf den Hebel der Tauchvorrichtung, um den Armen erneut zu versenken.
»Sieht kalt aus«, sagt Hunter und reibt sich die Arme. »Möchtest du eins?« Er blickt hinüber zu einem Stand mit Stofftieren von der Sorte, die mir meine Mutter als Kind nie erlaubt hat: Teddybären mit Schleife um den Hals, Plüschgiraffen, Affen und andere
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