Mystic City Bd 1 - Das gefangene Herz
Krallen. Sein Stamm misst im Durchmesser bestimmt gut zwei Meter und ist mit Sicherheit dreimal so hoch wie Hunter.
Hunter dreht sich um und sein Körper beginnt, ein grünes Licht zu verströmen. Dann geht er einfach in den Baum hinein. Ein leises Zischen ist zu hören und Hunter tritt auf der anderen Seite aus dem Baum heraus. Das grüne Leuchten verblasst wie das Nachglühen der Sonne auf der Netzhaut. Das ist Magie.
»Unglaublich!«
»Danke, danke«, sagt er und verbeugt sich. Dann tritt er durch den Baum auf die andere Seite zurück. Die Partikel seines Körpers ordnen sich in solch rasender Geschwindigkeit neu, dass ich keine Chance habe zu erkennen, wie genau dieser Prozess vor sich geht.
»Total abgefahren«, platze ich heraus.
»Ach, hör auf«, sagt Hunter. »Gleich werde ich rot.«
»Was können Mystiker noch?«
»Interessiert dich das wirklich oder willst du nur höflich sein?«, fragt er skeptisch.
»Jetzt sei nicht albern. Das ist doch alles absolut faszinierend.«
Ich folge ihm über welkes Laub, Wurzeln und heruntergefallene Äste in Richtung Schloss.
»Manche Mystiker können die Aura eines anderen Menschen annehmen«, sagt Hunter und führt mich zu einer Steintreppe. »So können sie ihr Aussehen komplett verändern. Aber dieser Effekt nutzt sich leider ab. Andere Mystiker beeinflussen mit ihrer Energie das Wetter und sogar die Zusammensetzung der Luft in ihrer Umgebung.« Er wartet, bis ich ihn eingeholt habe. »Ich kenne ein Mädchen, das aus heiterem Himmel einen Tornado entfachen kann. Ich kenne auch einen Mystiker, der Feuer machen kann. Und zwar so.« Er schnippt mit den Fingern.
»Kannst du fliegen?«, frage ich. »Ich hab gehört, Mystiker könnten das.«
Hunter schüttelt den Kopf. »Märchen. Fliegen kann nur ein Vogel. Oder Superman.«
»Können Mystiker unter Wasser atmen?«
»Ich kann es nicht«, sagt er, »aber mein Freund Marty. Allerdings nur für ein paar Stunden.«
»Stunden?«
Hunter lacht. »Ja.«
»Und was noch?«
»Alles Mögliche«, meint er beiläufig und zählt an den Fingern ab: »Mystiker heilen Wunden – das weißt du ja schon. Sie erzeugen Licht. Sie bewegen Wasser. Lassen Illusionen entstehen. Machen Festes flüssig. Manche sind übernatürlich stark oder schnell. Andere können magische Barrieren errichten – wir nennen sie Schilde . Nichtmystiker können sie nicht überwinden.«
Ich staune, wie sehr sich die magischen Kräfte voneinander unterscheiden.
»Mystische Energie kann auch ein bloßer Verstärker sein«, erklärt Hunter mir, als wir hinaufklettern. »Wenn zum Beispiel ein Stück Metall mit mystischer Energie überzogen ist, kann es nur durch ein anderes Stück mystisch verstärkten Metalls zerbrochen werden.« Er bleibt kurz stehen. »Deshalb fertigen Mystiker höchst gefährliche Waffen.«
»Gibt es etwas, was Mystiker nicht können? Außer fliegen natürlich.«
Hunter kratzt sich nachdenklich am Kinn. »Kein Mystiker kann einen Toten wieder zum Leben erwecken.«
»Das möchte ich auch hoffen. Das wäre wohl ziemlich … gruselig.«
»Mag sein.« Hunter greift nach einem gezackten Felsbrocken und springt zum nächsten. Ich folge ihm. »Viele von uns sind echt unspektakulär. Nelly zum Beispiel kann die Hände wie ein Dampfbügeleisen einsetzen. Gut gegen Falten in der Wäsche, aber ansonsten nutzlos. Enrico kann mit Lichtkugeln jonglieren. Auch nicht grade der Hit.« Hunter verdreht die Augen und ich lache.
»Aber eins ist sicher: Jeder Mystiker steckt voll lodernder Kraft.«
Auf einmal sind wir am einstigen Schlossportal angekommen und stehen unter einem riesigen Steinbogen. Von hier aus kann ich das Jahrmarktstreiben überblicken und das gesamte Areal des Prächtigen Blocks, der im Glanz des Festes erstrahlt.
»Wahnsinn«, höre ich mich sagen.
Ich glaube, Hunter flüstert etwas wie »Du bist Wahnsinn«, aber sein Blick ist auf den Erker des Schlosses gerichtet. »All die Fähigkeiten, von denen ich dir erzählt habe, sind den Mystikern durch die Abschöpfungen abhandengekommen. Wir waren einmal ein starkes Volk und haben mitgeholfen, diese Stadt zu errichten. Und jetzt sieh uns an – wir sind nur noch wenige und haben keine Macht mehr. Dieser Jahrmarkt ist die einzige Freude, die uns geblieben ist.«
Da kommt mir ein ketzerischer Gedanke: Was hier geschieht, ist Unrecht. Ich will nicht zu denjenigen gehören, dies es verursachen, sondern zu denen, die es verhindern. »Aber woher sollen wir wissen, dass die Mystiker, wenn
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