Mystic City Bd 1 - Das gefangene Herz
wäre ein Bild von großer Schönheit, würde die Frau nicht vor Schmerz schreien. Ihr Stöhnen wird halb erstickt durch den Beißschutz; dann ist ein klägliches Wimmern zu hören. Ich halte mir die Ohren zu, aber es nützt nichts. Es klingt, als würde jemand langsam zu Tode gefoltert.
Helle Farben zucken durch den Raum. Die Lichtkugel löst sich auf, Fäden ziehen sich zu den schwarzen Scheiben hinunter. Von dort wird das Licht in zwei riesige, mit Quecksilber gefüllte Glasröhren geleitet.
Stiggson lächelt, als würde er diesen Anblick genießen. Benedicts Miene ist schwieriger zu deuten. Entsetzt packe ich Elissa am Arm, damit ich nicht versehentlich einen Laut von mir gebe. Eine Ewigkeit vergeht, bis Benedict die Maschine stoppt. Die Frau sackt in sich zusammen.
Stiggson zieht sie vom Stuhl und hievt sich ihren erschlafften Körper wie einen Sack Kartoffeln über die Schultern. Dann legt er sie auf eine Krankenliege mit Rollgestell und breitet ein schwarzes Tuch über sie, bevor er sie durch die andere Tür hinausschiebt. Deshalb habe ich in diesem Gebäude nie Mystiker rein- oder rauskommen sehen – es gibt einen geheimen Eingang.
Benedict blickt sich um, wischt sich die Hände ab und folgt Stiggson. Nachdem er den Raum verlassen hat, treten wir hinter dem Vorhang hervor.
Meine Beine zittern so sehr, dass ich kaum laufen kann; beinahe versagt mir der Atem. »Wir müssen das melden! Es muss aufhören – sofort!«
Elissa legt mir die Hand auf die Schulter. »Wem sollen wir etwas melden? Diese Abschöpfung ist legal. Ähnliches geschieht jeden Tag.«
»Das kann doch nicht sein! Es ist grauenvoll!«
»Ich weiß. Glaub mir, ich weiß.«
Plötzlich fühle ich mich wie das letzte Naivchen. Klar kennt sie diese Qualen. Auch ihr wurde die Kraft abgeschöpft. »Es tut mir leid, was meine Familie Ihnen angetan hat. Was sie allen Mystikern antut.«
»Das ist doch nicht Ihre Schuld. Wir sollten uns besser fragen, wie wir dieses Unrecht beenden können.«
»Was soll ich tun?«, frage ich. Meine Stimme bebt, nicht vor Angst, sondern vor Wut.
»Unsere Sache unterstützen«, antwortet Elissa. »Irgendwann werde ich Sie vielleicht bitten, eine Nachricht zu überbringen. Und das könnte schon sehr bald sein. Bis dahin vertraue ich Ihnen. Bewahren Sie mein Geheimnis.«
»Ich werde niemandem etwas erzählen, versprochen«, sage ich und betrachte den Metallstuhl. »Ich werde Sie nicht verraten.«
20
J.
Meine Liebste, mein Alles. Jede Minute, die ich von dir getrennt bin, lebe ich in tiefem, düsterem Schmerz. Gerade war ich noch bei dir, und jetzt, zu Hause, spüre ich noch deine Küsse auf meinen Lippen, meinen Wangen und in meinem Herzen. Wann können wir endlich fliehen? Wir müssen uns einen Ort suchen, wo wir uns nicht mehr verstecken und nicht mehr lügen müssen. Wir haben ja schon über Flucht gesprochen, für die Zukunft geplant, doch es muss jetzt sein! Mehr als die Luft zum Atmen brauche ich die Gewissheit, dass wir diese verfluchte Stadt verlassen werden. Der Augenblick ist gekommen. Ich spüre es! In drei Nächten werde ich dich treffen, Liebste, wie geplant. Bis dahin …
R.
Ich lege den Brief zu den anderen aufs Bett. Um mich zu vergewissern, dass ich auch wirklich keinen Hinweis übersehen habe, lese ich alle noch einmal.
Unten haben sich meine Eltern und die Fosters versammelt; ich bin entschuldigt, weil ich so getan habe, als wollte ich unbedingt jetzt den Eventplan für die Hochzeit durchgehen. Glücklicherweise sind alle abgelenkt, sogar Thomas. Garland studiert die Rede ein, die morgen Früh gesendet wird.
Ich wühle in meiner Handtasche herum, Thomas’ Verlobungsring ist noch darin. Natürlich ist dieser Ring der reinste Wahnsinn, das lässt sich nicht leugnen. Aber kann der Junge, der ihn mir geschenkt hat, der Autor dieser glühenden Liebesbriefe sein, der Dreh- und Angelpunkt all meiner vergessenen Erinnerungen, der Hüter meines Herzens? Niemals.
Ich höre ein Geräusch am Fenster. Rasch werfe ich den Ring zurück in die Handtasche und verstecke die Briefe. Dann gehe ich zum Fenster und ziehe den Vorhang zurück.
Auf dem Balkon steht Hunter – nur durch die Glasscheibe von mir getrennt. Seit fast einer Woche habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich lasse ihn herein. Ich kann mich gar nicht sattsehen an ihm. Was ist es, dass mich so zu ihm hinzieht? Die Selbstsicherheit seiner Bewegungen. Der sanfte Schwung seiner Augenbrauen. Die türkisblauen Augen. Sein Lächeln. Mir gefällt
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