Mystic River
Hause.« Die beiden Wörter schlüpften aus Daves Mund, ohne dass er sie hätte aufhalten können.
»Nach Hause?«
»Ja«, antwortete Dave mit festem Blick und fester Stimme.
Sergeant Powers schlug seinen Block noch einmal auf. »Um Viertel nach eins zu Hause.« Beim Schreiben sah er Dave an. »Ist das richtig so?«
»Denk schon, ja.«
»Alles klar, Mr. Boyle. Danke noch mal.«
Sergeant Powers steuerte auf die Treppe zu, Sean blieb jedoch vor der Wohnungstür stehen. »Hat mich echt gefreut, dich zu sehen, Dave.«
»Mich auch«, sagte Dave und versuchte sich zu erinnern, was er an Sean nicht gemocht hatte, als sie Kinder waren. Aber es wollte ihm nicht einfallen.
»Wir sollten mal einen zusammen trinken gehen«, schlug Sean vor. »Bald.«
»Gerne!«
»Also gut. Mach’s gut, Dave.«
Sie gaben sich die Hand und Dave musste sich beherrschen, bei dem Druck auf seine geschwollene Hand nicht zusammenzuzucken.
»Du auch, Sean.«
Sean ging die Treppe hinunter, Dave blieb oben auf dem Absatz stehen. Sean winkte ihm über die Schulter zu und Dave winkte zurück, obwohl er wusste, dass Sean es nicht mehr sehen konnte.
Er beschloss, erst mal in der Küche ein Bier zu trinken, bevor er wieder zu Jimmy und Annabeth ging. Er hoffte, Michael würde nicht heruntergerannt kommen, weil er gehört hatte, dass Sean und der andere gegangen waren, denn Dave brauchte ein paar Minuten Ruhe, ein bisschen Zeit, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Er war sich nicht ganz sicher, was gerade im Wohnzimmer passiert war. Sean und der andere Bulle hatten ihm Fragen gestellt, als sei er ein Zeuge oder ein Verdächtiger, aber weil ihre Befragung so einen unbestimmten Charakter gehabt hatte, konnte Dave nicht ergründen, aus welchem Grund sie tatsächlich vorbeigeschaut hatten. Und diese Unsicherheit bescherte ihm einen schweinedicken Kopf wie nach einer durchzechten Nacht. Immer wenn Dave eine Situation nicht richtig einschätzen konnte, wenn sich der Boden zu verschieben und unter seinen Füßen wegzusacken drohte, teilte sich sein Gehirn in zwei Hälften, als würde es von einer Axt gespalten. Davon bekam er Kopfschmerzen und manchmal wurde es sogar noch schlimmer.
Denn manchmal war Dave nicht Dave. Dann war er der Junge. Der Junge, der den Wölfen entkam. Aber nicht nur das. Der Junge, der den Wölfen entkam und groß wurde. Und das war ein völlig anderes Wesen als einfach nur Dave Boyle.
Der Junge, der den Wölfen entkam und groß wurde, war ein Geschöpf der Dunkelheit, das sich durch eine bewaldete Landschaft bewegte, lautlos und unsichtbar. Es lebte in einer Welt, die andere nicht sahen, nicht ertragen mussten, nicht kannten oder nicht kennen wollten – eine Welt, die wie ein dunkler Strom neben unserer Welt dahinfloss, eine Welt der Grillen und Glühwürmchen, eine Geisterwelt, die man nur als kurzes Flackern aus dem Augenwinkel sah und bereits verschwunden war, wenn man den Kopf nach ihr umdrehte.
Das war die Welt, in der Dave häufig lebte. Nicht als Dave, sondern als der Junge. Und der Junge war nicht vernünftig groß geworden. Er war wütender, paranoider geworden, zu Dingen imstande, die sich der echte Dave nicht mal vorstellen konnte. Normalerweise lebte der Junge nur in Daves Traumwelt, huschte wie ein wildes Tier zwischen dicken Bäumen umher und ließ sich immer nur für einen kurzen Moment blicken. Und solange er im Wald von Daves Träumen blieb, war er harmlos.
Doch litt Dave seit der Kindheit an schubweise auftretender Schlaflosigkeit. Sie konnte nach Monaten ungestörter Nachtruhe auftreten und dann befand er sich plötzlich wieder in der aufgeregten, klirrenden Welt der ewig Wachen und nie richtig Schlafenden. Nach ein paar Tagen sah Dave aus den Augenwinkeln Dinge: meistens Mäuse, die an den Fußleisten entlang oder über Tische huschten, manchmal schwarze Fliegen, die um die Ecke ins Nebenzimmer brummten. Vor seinem Gesicht explodierten dann unerwartet kleine Feuerkugeln. Menschen wurden zu Gummi. Und der Junge setzte den Fuß über die Schwelle des Traumwaldes in die Welt der Wachenden. Meistens hatte Dave ihn im Griff, aber manchmal machte ihm der Junge Angst. Der Junge schrie ihm in die Ohren. Der Junge hatte so eine Art, im unpassenden Moment zu lachen. Der Junge wollte immer die Maske wegreißen, die Daves Gesicht normalerweise verdeckte, und sich den Leuten zeigen.
Seit drei Tagen hatte Dave nicht viel geschlafen. Jede Nacht hatte er wach gelegen und seine schlafende Frau betrachtet. Der
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