Mystic River
Kommandant kurz und nachdrücklich erwähnt hatte, als sich in der Baracke herumsprach, dass Lauren ausgezogen war. Und hier saß Annabeth, eine Fremde, die einen Verlust erlitten hatte. Er merkte, dass sie etwas über seinen Verlust erfahren wollte, ihn ergründen oder teilen wollte oder etwas Ähnliches. Sie wollte sichergehen, dass sie nicht die Einzige war, die jemanden verloren hatte, mutmaßte Sean.
»Meine Frau ist Inspizientin«, sagte er leise. »Für reisende Ensembles, wissen Sie? Letztes Jahr tourte Lord of the Dance durchs Land, meine Frau war Inspizientin. Solche Sachen. Jetzt ist sie auch unterwegs, vielleicht mit Annie Get Your Gun. Ich weiß es nicht genau, um ehrlich zu sein. Was halt dieses Jahr wieder rausgekramt wurde. Wir waren ein komisches Paar. Ich meine, unsere Arbeit hätte wohl kaum gegensätzlicher sein können, oder?«
»Aber Sie liebten sie«, entgegnete Annabeth.
Er nickte. »Ja. Tu ich immer noch.« Er atmete tief durch, lehnte sich zurück und schluckte. »Also, dem ich diese Strafzettel verpasst habe, das war …« Seans Mund wurde trocken und er schüttelte den Kopf, verspürte plötzlich den Drang, so schnell wie möglich diese Veranda und das Haus zu verlassen.
»War er ihr Nebenbuhler?«, fragte Annabeth mit sanfter Stimme.
Sean nahm eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und nickte. »Das ist ein hübsches Wort. Ja, nennen wir ihn so. Einen Nebenbuhler. Meine Frau und ich, zwischen uns lief es schon seit einiger Zeit nicht mehr. Wir waren beide nicht oft zu Hause und so weiter. Und dieser, ähm, Nebenbuhler, der machte sich an sie heran.«
»Und Sie haben sich falsch verhalten«, sagte Annabeth. Es war eine Feststellung, keine Frage.
Sean verdrehte die Augen. »Kennen Sie jemanden, der sich in so einer Situation richtig verhält?«
Annabeth schaute ihn streng an, als wolle sie ihm zu verstehen geben, dass Sarkasmus unter seinem Niveau und generell fehl am Platze sei.
»Aber Sie lieben sie noch.«
»Klar. Mann, ich glaube, sie liebt mich auch noch.« Er drückte seine Zigarette aus. »Sie ruft mich ständig an. Ruft an und sagt nichts.«
»Moment mal, sie …«
»Ich weiß«, sagte er.
»… ruft bei Ihnen an und sagt kein Wort?«
»Genau. Seit ungefähr acht Monaten jetzt schon.«
Annabeth lachte. »Ich will ja nichts sagen, aber das ist das Verrückteste, das ich seit langem gehört habe.«
»Da widerspreche ich nicht.« Er beobachtete, wie eine Fliege um die nackte Glühbirne kreiste. »Eines Tages, denk ich mir, wird sie mit mir reden. Und darauf warte ich.«
Er hörte, wie sein bescheuertes Kichern in der Nacht verhallte, und das Echo beschämte ihn. Sie saßen eine Weile schweigend da, rauchten und lauschten dem Summen der Fliege, die immer wieder wie von Sinnen auf das Licht zuschoss.
»Wie heißt sie?«, wollte Annabeth wissen. »Die ganze Zeit haben Sie nicht einmal ihren Namen gesagt.«
»Lauren«, antwortete er. »Sie heißt Lauren.«
Wie die losen Fäden eines Spinnennetzes schwebte der Name eine Weile in der Luft.
»Und Sie lieben sie schon von Kindheit an?«
»Seit dem ersten Jahr auf dem College«, sagte er. »Ja, wir waren wohl noch Kinder.«
Er konnte sich an einen Regenschauer im November erinnern, als sie sich zum ersten Mal in einem Torweg geküsst hatten, an das Prickeln auf ihrer Haut, an ihr beider Zittern.
»Vielleicht ist das das Problem«, bemerkte Annabeth.
Sean schaute sie an. »Dass wir keine Kinder mehr sind?«
»Zumindest, dass einer seine Kindheit hinter sich gelassen hat«, gab sie zurück.
Sean fragte sich, wen sie damit meinte.
»Jimmy hat mir erzählt, Sie hätten ihm gesagt, dass Katie mit Brendan Harris durchbrennen wollte.«
Sean nickte.
»Na, das ist genau dasselbe, oder?«
Er sah sie an. »Was?«
Sie blies den Rauch hoch zur leeren Wäscheleine. »Diese dummen Träume, die man hat, wenn man jung ist. Ich meine, wollten sich Katie und Brendan in Las Vegas ein neues Leben aufbauen? Wie lange hätte das kleine Paradies gehalten? Vielleicht bis zum zweiten Campingplatz, bis zum zweiten Kind, aber früher oder später hätten sie es kapiert: Das Leben ist nicht ›sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende‹, goldene Sonnenuntergänge und diese ganze Kacke. Es ist harte Arbeit. Der Mensch, den man liebt, ist die große Liebe selten wert. Weil nämlich niemand so viel wert ist und vielleicht verdient auch keiner diese Last. Man wird im Stich gelassen. Man wird enttäuscht, das Vertrauen wird
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