Mystic River
kapiert, verdammt noch mal? Nein!«
Ray zog die Füße an und strafte Brendan mit Missachtung. Brendan schämte sich, war aber immer noch wütend. So war das mit stummen Menschen: Sie vermittelten einem das Gefühl, dumm zu sein, weil man so viel redete. Was Ray einem auch immer mitteilte, er trug es kurz und knapp vor. Er vermittelte einem das Nötigste. Er wusste nicht, wie es war, nach Worten zu suchen oder sich zu verhaspeln, weil die Zunge schneller war als der Kopf.
Brendan wollte überfließen, wollte, dass die Worte in einem leidenschaftlichen, verkorksten, nicht unbedingt logischen, aber absolut ehrlichen Schwall des Tributs an Katie, und was sie ihm bedeutet hatte, aus seinem Mund flossen. Wie es sich angefühlt hatte, in diesem Bett die Nase an ihren Hals zu drücken und den Finger um einen von ihren zu haken und ihr Eis vom Kinn zu wischen und neben ihr im Auto zu sitzen und ihre Augen beim Heranfahren an eine Kreuzung nach rechts und links huschen zu sehen und sie reden und schlafen und schnarchen zu hören und …
Stundenlang wollte er so weiterreden. Er wollte, dass ihm jemand zuhörte und verstand, dass Sprache nicht nur Vorstellungen oder Meinungen ausdrücken konnte. Manchmal konnte sie ein ganzes Menschenleben vermitteln. Und obwohl man, noch bevor man den Mund aufmachte, wusste, dass man es nicht schaffen würde, war es doch irgendwie wichtig, es zu versuchen. Man konnte es nur versuchen.
Aber Ray, der würde das nie und nimmer kapieren. Für Ray waren Wörter Bewegungen der Finger, flinkes Senken, Heben und Fuchteln der Hände. Ray gab nichts Überflüssiges von sich. Er hatte für Kommunikation nichts übrig. Man sagte ja, was man meinte, und damit war es gut. Vor seinem dumpf vor sich hin blickenden Bruder seinen Schmerz abzuladen und die Fassung zu verlieren wäre Brendan nur peinlich gewesen. Geholfen hätte es nicht.
Er schaute seinen verängstigten kleinen Bruder an, der sich auf sein Bett zurückgezogen hatte und ihn nun mit hervorstehenden Augen anguckte, dann streckte Brendan die Hand aus.
»Tut mir Leid«, sagte er und hörte seine Stimme brechen. »Tut mir Leid, Ray. In Ordnung? Ich wollte dich nicht anschreien.«
Ray nahm Brendans Hand und stellte sich hin.
»Es ist also in Ordnung?«, gestikulierte er und ließ Brendan nicht aus den Augen, als sei er bereit, sich bei dessen nächsten Gefühlsausbruch aus dem Fenster zu stürzen.
»Es ist in Ordnung«, signalisierte ihm Brendan. »Ich glaub schon.«
20 WENN SIE ZURÜCKKOMMT
Seine Eltern wohnten in Wingate Estates, einer Wohnanlage aus stuckverzierten kleinen Stadthäusern dreißig Meilen südlich der Stadt. Jeweils zwanzig Häuser bildeten eine Einheit und jede Einheit besaß einen eigenen Swimmingpool und ein Freizeitzentrum, in dem samstags Tanzabende veranstaltet wurden. Ein kleiner Golfplatz legte sich wie ein vom Himmel gefallener Halbmond um den Komplex und vom späten Frühling bis in den frühen Herbst hörte man das Brummen der motorbetriebenen Caddys.
Seans Vater spielte kein Golf. Vor langer Zeit hatte er entschieden, dass es ein Sport für Reiche sei und er seine Herkunft als Arbeiter verleugnen würde, wenn er damit anfinge. Seans Mutter hatte es zwar eine Zeit lang probiert, dann aber aufgegeben, weil sie das Gefühl hatte, ihre Mitspielerinnen lachten heimlich über ihre Figur, ihren leichten Akzent und ihre Kleidung.
So lebten sie hier ruhig und größtenteils ohne Freunde, auch wenn Sean wusste, dass sein Vater mit einem kleinen Stöpsel von Iren namens Riley Bekanntschaft geschlossen hatte, der ebenfalls in der Stadt gewohnt hatte, bevor er nach Wingate gezogen war. Riley, der auch keine hohe Meinung vom Golf hatte, traf sich zuweilen mit Seans Vater auf ein Glas im Ground Round auf der anderen Seite der Route 28. Und Seans Mutter, eine von Natur aus hilfsbereite Frau, kümmerte sich häufig um ältere gebrechliche Nachbarn. Sie fuhr sie zur Apotheke, um den Medikamentenvorrat aufzustocken, oder zum Arzt, damit neue Medikamente neben die alten in den Medizinschrank einziehen konnten. Seans Mutter ging zwar auf die siebzig zu, fühlte sich bei diesen Fahrten aber jung und agil. Da die meisten Menschen, denen sie half, verwitwet waren, vertrat sie die Ansicht, dass ihre Gesundheit und die ihres Mannes ein Segen von oben waren.
»Sie sind allein«, hatte sie Sean einmal über ihre kränkelnden Freunde erzählt, »und auch wenn es ihnen die Ärzte nicht verraten, werden sie eines Tages an Einsamkeit
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