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Mystic River

Titel: Mystic River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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sterben.«
    Wenn Sean an dem Wachhäuschen vorbei- und die Hauptstraße hinunterfuhr, die alle zehn Meter von gelben Straßenschwellen unterbrochen wurde, die seine Achsen durchrüttelten, konnte er fast die Geister der Straßen, Häuser und Leben sehen, die die Bewohner von Wingate hinterlassen hatten. Ihm war, als schwebten Wohnungen ohne heißes Wasser, langweilige weiße Eisschränke, schmiedeeiserne Feuerleitern und kreischende Kinder wie Morgennebel durch die jetzige Umgebung von Eierstabverzierungen und sauberen Rasenflächen. Dann legte sich ein irrationales Schuldgefühl auf ihn, das Schuldgefühl eines Sohnes, der seine Eltern ins Altersheim abgeschoben hatte. Irrational, weil Wingate Estates technisch gesehen keine Wohnanlage ausschließlich für Senioren war (obwohl Sean, ehrlich gesagt, noch keinen Bewohner unter sechzig Jahren gesehen hatte) und weil seine Eltern aus vollkommen freien Stücken hergezogen waren, nachdem sie ihr jahrzehntelanges Jammern über die Stadt und ihren Lärm, über Kriminalität und Staus aufgegeben hatten und hierher gezogen waren, wo, wie sein Vater sich ausdrückte, »man nachts herumlaufen kann, ohne sich ständig umdrehen zu müssen«.
    Trotzdem hatte Sean das Gefühl, sie im Stich gelassen zu haben, als hätten sie von ihm erwartet, dass er sich stärker bemühte, sie in seiner Nähe zu behalten. Sean sah diesen Ort und erkannte den Tod, oder zumindest einen Sammelplatz auf dem Weg dorthin, und er hasste nicht nur die Vorstellung, dass seine Eltern hier waren – und auf den Tag warteten, dass sie von jemandem zum Arzt gefahren werden mussten –, er hasste den Gedanken, selbst irgendwann einmal gezwungen zu sein, hierher oder an einen ähnlichen Ort zu ziehen. Er wusste, dass die Wahrscheinlichkeit, woanders zu landen, nicht groß war. Und wie es inzwischen aussah, wohl ohne Kinder, die sich um ihn kümmerten, oder eine Frau. Er war sechsunddreißig und hatte schon mehr als die Hälfte des Weges, der in ein Wingate-Apartment führte, zurückgelegt, wobei die zweite Hälfte womöglich in einem weitaus rasanteren Tempo als die erste verfliegen würde.
    An dem kleinen Esstisch, der in die Nische zwischen der Miniküche und dem geräumigeren Wohnzimmer gequetscht war, blies seine Mutter die Kerzen auf dem Kuchen aus, den sie schweigend aßen. Sie tranken Tee zum Ticken der Uhr an der Wand und zum Summen der hauseigenen Klimaanlage.
    Als sie fertig waren, erhob sich Seans Vater. »Ich räume ab.«
    »Nein, das mach ich schon.«
    »Du bleibst sitzen!«
    »Nein, lass doch!«
    »Setz dich hin, Geburtstagskind!«
    Verstohlen lächelnd setzte sich seine Mutter wieder und Seans Vater stapelte die Teller aufeinander und brachte sie um die Ecke in die Küche.
    »Pass auf mit den Krümeln!«, rief seine Mutter.
    »Ich pass auf.«
    »Wenn du sie nicht richtig runterspülst, bekommen wir wieder Ameisen.«
    »Es war eine einzige Ameise. Eine.«
    »Wir hatten mehrere«, sagte sie zu Sean.
    »Vor einem halben Jahr«, verbesserte sein Vater bei laufendem Wasser.
    »Und Mäuse.«
    »Wir hatten keine Mäuse.«
    »Mrs. Feingold aber. Zwei Stück. Sie musste Fallen aufstellen.«
    »Wir haben keine Mäuse.«
    »Weil ich drauf aufpasse, dass du keine Krümel in der Spüle liegen lässt.«
    »Himmel noch mal!«, stöhnte Seans Vater.
    Seans Mutter trank ihren Tee und sah Sean über den Tassenrand hinweg an.
    »Ich hab einen Artikel für Lauren ausgeschnitten«, sagte sie, als sie die Tasse zurück auf die Untertasse stellte. »Der muss hier irgendwo sein.«
    Seans Mutter schnitt ständig Artikel aus der Zeitung aus und gab sie ihm, wenn er zu Besuch kam. Oder sie schickte ihm neun oder zehn mit der Post. Wenn Sean den Umschlag öffnete, lagen sie darin sauber gefaltet wie eine Mahnung, wie viel Zeit seit seinem letzten Besuch verstrichen war. Die Themen der Artikel variierten, aber sie fielen sämtlich in die Kategorie Haushaltstipps oder Selbsthilfe: was man tun musste, damit sich kein Feuer im Flusensieb des Trockners entzündete, wie man erfolgreich Gefrierbrand verhinderte, die Vor- und Nachteile eines handschriftlichen letzten Willens, wie man sich im Urlaub Taschendiebe vom Hals hielt, Gesundheitstipps für Männer in stressintensiven Berufen (»Wandern – Balsam für die Seele«). Sean wusste, dass seine Mutter so ihre Zuneigung zu ihm ausdrückte. Früher hatte sie ihm den Mantel zugeknöpft oder den Schal zurechtgerückt, wenn er an einem Januarmorgen zur Schule ging, um ihm ihre Liebe zu

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