Mystic River
fährt damit nach Massachusetts.«
»Daher die Anklage der Bundespolizei.«
»Daher«, sagte Whitey und warf Sean noch einen Blick zu, »müssten sie ihn eigentlich an den Eiern haben, aber er fährt trotzdem nicht ein.«
Sean richtete sich auf seinem Stuhl auf. »Hat er einen angeschissen?«
»Sieht so aus«, entgegnete Whitey. »Danach gähnende Leere in der Akte. Raymonds Bewährungshelfer notiert, dass Raymond seine Termine pflichtbewusst wahrnimmt, bis seine Bewährung Ende 86 vorbei ist. Arbeitsverhältnisse?« Whitey schaute über den Ordner hinweg Sean an.
»Oh«, erwiderte Sean. »Bin ich jetzt dran?« Er schlug ebenfalls einen Ordner auf. »Arbeitsverhältnisse, Steuererklärungen, Zahlungen an die Krankenversicherung – im August 1987 ist damit schlagartig Schluss. Puff, weg ist er.«
»Schon eine landesweite Anfrage rausgegeben?«
»Bereits passiert, der Herr.«
»Welche Möglichkeiten gibt’s?«
Sean legte wieder die Füße auf den Tisch und lehnte sich zurück. »Erstens: Er ist tot. Zweitens: Er ist im Zeugenschutz. Drittens: Er ist abgetaucht, ganz tief, und jetzt kurz in seine alte Heimat zurückgekehrt, um mit seiner Knarre die neunzehnjährige Freundin seines Sohnes über den Haufen zu knallen.«
Whitey warf seinen Aktenordner auf den leeren Schreibtisch. »Wir wissen noch nicht mal, ob das seine ist. Wir wissen gar nichts. Was machen wir hier eigentlich, Devine?«
»Wir machen uns fein zum Tanz, Sarge. Na, los! Lass mich nicht jetzt schon hängen! Wir haben einen, der vor achtzehn Jahren Hauptverdächtiger eines Überfalls war, bei dem die Mordwaffe benutzt wurde. Sein Sohn war der Freund des Opfers. Der Vater ist aktenkundig. Ich will ihn mir genauer ansehen, und den Sohn auch. Du weißt schon, den ohne Alibi.«
»Der den Lügendetektor-Test bestanden hat und von dem wir beide überzeugt waren, dass er nicht das Zeug für einen Mord besitzt?«
»Vielleicht haben wir uns geirrt.«
Whitey rieb sich die Augen. »Mensch, hab’s allmählich satt, mich zu irren.«
»Soll das heißen, du hast dich bei Boyle geirrt?«
Whitey rieb weiter, schüttelte den Kopf. »Das heißt es überhaupt nicht. Ich glaube noch immer, dass er ein Stück Scheiße ist, aber ob ich ihm den Tod von Katherine Marcus anhängen kann, ist eine andere Frage.« Er ließ die Hände sinken und die aufgedunsenen Ringe unter seinen Augen waren nun rot. »Aber dieser Ansatz mit Raymond Harris scheint auch nicht gerade vielversprechend zu sein. Okay, nehmen wir uns noch mal den Sohn vor. Gut. Und wir versuchen, den Alten zu finden. Aber was dann?«
»Wir suchen den, der die Waffe hat!«, schlug Sean vor.
»Die kann schon längst im Atlantik liegen. Da hätte ich sie jedenfalls reingeschmissen.«
Sean legte den Kopf schräg. »Das hättest du aber schon vor achtzehn Jahren nach dem Überfall auf den Alk-Laden gemacht.«
»Stimmt.«
»Der hier aber nicht. Das bedeutet …«
»Er ist nicht so schlau wie ich«, sagte Whitey.
»Oder wie ich.«
»Bleibt abzuwarten.«
Sean reckte sich auf seinem Stuhl, verschränkte die Finger und streckte die Arme über den Kopf zur Decke, bis er spürte, dass sich seine Muskeln dehnten. Er gähnte herzhaft und ließ die Arme wieder sinken. »Whitey«, begann er und versuchte, die Frage, von der er schon den ganzen Vormittag wusste, dass er sie stellen musste, so lange wie möglich hinauszuzögern.
»Was denn?«
»Steht was über Komplizen in der Akte?«
Whitey nahm den Ordner vom Tisch, klappte ihn auf und blätterte die ersten Seiten durch. »Strafrechtlich aufgefallene Komplizen«, las er vor. »Reginald Neil alias Reggie Duke, Patrick Moraghan, Kevin ›Whackjob‹ Sirraccis, Nicholas Savage, Ähm, Anthony Waxman …« Whitey blickte hoch und Sean wusste, was jetzt kam. »James Marcus«, fuhr Whitey fort, »alias Jimmy Flats, bekannter Anführer einer Bande, auch ›Rester Street Boys‹ genannt.« Whitey schloss den Ordner.
»Ein Treffer nach dem anderen, was?«, meinte Sean.
Der Grabstein, den Jimmy aussuchte, war schlicht und weiß. Der Steinmetz sprach mit gesenkter, ehrfürchtiger Stimme, als wäre er am liebsten woanders, versuchte aber dennoch, Jimmy zu teureren Steinen zu überreden, Steinen mit in Marmor gehauenen Engeln, Putten und Rosen. »Vielleicht ein keltisches Kreuz«, schlug er vor. »Das wird sehr gerne genommen von …«
Jimmy wartete, dass er »Leuten wie Ihnen« sagte, doch das verkniff sich der Steinmetz gerade noch rechtzeitig und schloss mit:
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