Mystic River
vermutete er. Aber irgendwas stimmte nicht mit Jimmy. Er hatte eben so komisch zu ihm herübergenickt, mit so einem merkwürdig leeren Gesicht, das aber irgendwie entschlossen wirkte. Und wieso sah er überhaupt so aufgedunsen aus, als hätte er seit gestern fünf Kilo zugelegt? Und was machte er hier in Chelsea an dem Abend, wo die Totenwache seiner Tochter stattfand?
Jimmy kam auf ihn zu und rutschte auf Vals Platz gegenüber von Dave. »Wie geht’s?«, fragte er.
»Bisschen betrunken«, gab Dave zu. »Hast du zugenommen?«
Jimmy grinste ihn komisch an. »Nein.«
»Du siehst breiter aus.«
Jimmy zuckte mit den Schultern.
»Was machst du hier?«, wollte Dave wissen.
»Ich komme oft her. Val und ich kennen Huey schon seit Jahren. Ich meine, richtig lange. Warum trinkst du den Schnaps nicht aus, Dave?«
Dave griff zum Glas. »Ich bin schon ‘n bisschen breit.«
»Wem schadet das?«, erwiderte Jimmy und Dave bemerkte, dass auch Jimmy einen Schnaps in der Hand hielt. Jimmy hob das Glas hoch und stieß mit Dave an. »Auf unsere Kinder!«, sagte Jimmy.
»Auf unsere Kinder!«, wiederholte Dave mühsam und fühlte sich plötzlich neben der Spur. Es kam ihm vor, als wäre er in einen Traum geglitten, einen Traum, in dem ihm alle Gesichter zu nahe kamen, die Stimmen aber klangen, als hallten sie vom Grunde eines Gullys herauf. Dave trank den Schnaps und verzog das Gesicht. Val rutschte neben ihn auf die Bank, legte den Arm um ihn und nahm einen Schluck Bier. »Hat mir hier schon immer gut gefallen.«
»Ist ‘ne schöne Kneipe«, sagte Jimmy. »Man wird in Ruhe gelassen.«
»Das ist wichtig«, pflichtete Val ihm bei. »Man wird in Ruhe gelassen. Niemand macht dich oder deine Familie oder deine Freunde an. Stimmt’s, Dave?«
»Auf jeden Fall«, antwortete Dave.
»Der Kerl ist zum Brüllen«, meinte Val. »Da kann man gar nicht mehr aufhören.«
»Echt?«, wunderte sich Jimmy.
»O ja«, erwiderte Val und legte den Arm um Daves Schulter. »Unser Mann, Dave.«
Celeste saß auf der Kante des Motelbettes und Michael guckte Fernsehen. Sie hatte das Telefon auf dem Schoß und die Hand über die Muschel gelegt.
Im Laufe des Nachmittags, den sie mit Michael am winzigen Swimmingpool in rostigen Stühlen verbracht hatte, war sie sich immer kleiner und leerer vorgekommen, als blicke jemand von oben auf sie herab und erkannte, wie überflüssig und dumm, noch schlimmer, wie untreu sie war.
Sie hatte ihren Mann verraten.
Vielleicht hatte Dave Katie umgebracht. Vielleicht. Aber was hatte sie sich dabei gedacht, es ausgerechnet Jimmy zu erzählen? Warum hatte sie nicht gewartet und länger über alles nachgedacht? Warum hatte sie nicht mögliche Alternativen in Erwägung gezogen? Weil sie Angst vor Dave hatte?
Aber dieser neue Dave, dem sie in den letzten Tagen begegnet war, hatte unter Stress gestanden und sich vielleicht deshalb so merkwürdig verhalten.
Vielleicht hatte er Katie gar nicht umgebracht. Vielleicht nicht.
Sie musste wenigstens so lange zu seinen Gunsten entscheiden, bis die Angelegenheit aus der Welt geschafft war. Sie wusste nicht, ob sie mit ihm leben und Michael dem Risiko aussetzen konnte, aber sie wusste inzwischen, dass sie zur Polizei hätte gehen sollen, nicht zu Jimmy Marcus.
Hatte sie Dave wehtun wollen? Hatte sie sich mehr vom Blick in Jimmys Augen und von dem Gespräch mit ihm erhofft? Und wenn ja, was? Warum hatte sie es ausgerechnet Jimmy erzählt?
Sie konnte viele Antworten auf diese Frage geben, aber keine davon gefiel ihr. Sie nahm den Hörer und rief bei Jimmy zu Hause an. Dabei zitterten ihre Hände und sie betete: »Lass einen rangehen. Bitte lass einen rangehen!«
Irgendwie rutschte Jimmys Lächeln in seinem Gesicht hin und her, auf einer Seite hoch, auf der anderen wieder runter, dann die andere hoch. Dave versuchte, sich auf die Theke zu konzentrieren, aber die bewegte sich auch, als befände sich die Kneipe auf einem Boot und das Meer bekäme langsam schlechte Laune.
»Weißt du noch, wie wir Ray Harris mal mit hierher genommen haben?«, fragte Val.
»Klar«, sagte Jimmy. »Der gute alte Ray.«
»Tja«, meinte Val und schlug auf den Tisch, »Ray, der war witzig, der alte Hurensohn.«
»Ja«, sagte Jimmy sanft, »Ray war lustig. Der konnte einen zum Lachen bringen.«
»Die meisten haben ihn Einfach Ray genannt«, erzählte Val, während Dave versuchte herauszukriegen, über wen sie da gerade um alles in der Welt sprachen. »Aber bei mir hieß er immer
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