Mythor - 104 - Inscribe die Löwin
irgendwann den Kontakt zur Gruppe verloren und war eigene Wege gegangen – geradewegs in den Tod.
Von Degenstichen durchbohrt, lag der Körper am Boden – das Gesicht der Toten aber drückte etwas ganz anderes aus als Todesfurcht und Todesschmerz: Verzückung schien auf den Zügen zu stehen.
»Inscribe«, stieß Robbin hervor. »Ganz sicher.«
»Sie ist eine gute Kämpferin gewesen«, murmelte Burra. »Wie konnte ihr das zustoßen?«
»Das Löwenweib wird sie behext haben«, sagte Gerrek. Er wirkte ein wenig verstört, ab und zu sah er sich scheu um.
»Wo mag sie stecken?« rätselte Mythor.
»Sollten wir uns nicht besser zurückziehen?« fragte Jente zaghaft.
»Unter gar keinen Umständen«, ereiferte sich Mescal sofort; seiner Sicherheit und nicht Jentes eigenem Leben galt die Sorge der jungen Amazone, das wurde immer deutlicher. Mescal zuliebe nahm sie sogar in Kauf, für feige gehalten zu werden.
Mythor studierte rasch die Gesichter der Gefährten. Ihre Mienen spiegelten die widersprüchlichsten Empfindungen, die er auch in sich fühlte: Besorgnis, Verlockung; eine starke Herausforderung, der Gefahr zu begegnen, aber auch die Scheu vor einem unerklärlichen, mordsüchtigen Wesen, das Inscribe genannt wurde.
Die kalten Schwaden, die sacht über den Karst strichen, waren wenig dazu angetan, den Mut der Schar zu heben. Wie anders hätte das Bild in den warmen Küstenstrichen Sarphands ausgesehen, dachte Mythor einen Augenblick lang. Was Luxon wohl zu dieser Lage gesagt hätte – ob dem Listenreichen auch hier etwas eingefallen wäre?
Vorbei, weg mit dem Gedanken. Dies hier war die Wirklichkeit, nur das zählte. Erinnerungen brachten nicht weiter…
»Die seltsame Statue ist übrigens auch hier gewesen«, sagte Robbin beiläufig.
Mythor war inzwischen auf alles gefaßt, selbst auf so krause Reden wie diese. Ein Verdacht keimte in ihm auf.
Hatte die seltsame Erzstatue etwas mit dem Tod der Amazone zu tun? War sie am Ende der Meuchelmörder?
»Das kann ich nicht sagen«, erklärte Robbin auf Mythors Frage. »Wir können aber der Spur dieses Dings folgen, falls es eines ist.«
»Hast du die Fährte von Obyge aufnehmen können?« fragte Burra.
»Beide Spuren führen in diese Richtung – und dort liegt vermutlich der Leere See. «
»Worauf warten wir dann noch«, bestimmte Mythor. Er sah Burra an. »Wir werden die Leichen auf dem Rückweg bergen.«
»Meinetwegen keine Sentimentalitäten«, stieß die alte Amazone hervor. »Suchen wir lieber die Person oder Kreatur, die unsere Kameradinnen getötet hat. Ich bin sicher, daß der Tod dieses Scheusals unseren Waffenschwestern mehr geben würde als ein feierliches Begräbnis.«
Die Gruppe setzte ihren Marsch fort. Er verlief schweigend. Der Tod der beiden Amazonen hatte die anderen sehr betroffen gemacht – und auf ihren Gemütern lastete die vage Ahnung, daß es der fehlenden dritten Amazone nicht besser ergehen würde als den beiden anderen.
Und es gab natürlich keinerlei Sicherheit, daß Inscribe nicht einen nach dem anderen aus der Gruppe herauspickte, bis keiner mehr am Leben war.
Robbin erschnüffelte die Fährte mit gewohnter Zuverlässigkeit. An einer Stelle blieb er plötzlich stehen.
»Hier gabeln sich die Spuren«, sagte er. »Dorthin führt die Fährte des Dinges aus Erz, hierhin müssen wir uns wenden, wenn wir Obyge finden wollen.«
»Die Amazone geht vor«, entschied Mythor ohne Zögern.
Robbin suchte die entsprechende Spur heraus und leitete die Gruppe. Es war kühl, und die klamme Kälte sickerte gleichsam durch alle Fugen und Ritzen. Wäre die Anstrengung des Marschierens nicht gewesen, hätten die sechs bitterlich gefroren.
Es gab allerdings auch andere Möglichkeiten…
»Was ist das?« fragte Jente plötzlich. Sie deutete hinaus in den Nebel.
»Seht ihr es auch?«
Vor der Hand der Amazone schob sich die dichte Nebelbank, wie von Geisterhand bewegt, zur Seite – der Blick öffnete sich weit ins Land hinein, aber eben nur knapp vierzig Schritte breit.
»So einen seltsamen Nebel habe ich noch nie gesehen«, ließ sich Robbin vernehmen.
»Wieder einmal Inscribe!« stieß Burra hervor. »Da bin ich mir sicher!«
Die Bestätigung ließ nicht lange auf sich warten.
Am Ende des Sichtstreifens tauchte eine Gestalt auf, klar als die gesuchte Amazone zu erkennen. Sie marschierte aufrecht und von den anderen weg – und vor ihr schälte sich aus dem weißen Dunst die Kontur der Tanzenden.
Ihre Bewegungen waren rasend schnell…
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