Mythos Ueberfremdung
ihnen kamen aus einem christlichen Umfeld.
Und sie waren recht gut ausgebildet: 70 Prozent hatten die höhere Schule abgeschlossen, die Übrigen besaßen einen College- oder Universitätsabschluss; es gab keine Schulabbrecher oder Analphabeten. Von den 93 Personen, zu denen wirtschaftliche Daten vorlagen, gehörten 5 zur Oberschicht und 36 zur Mittelschicht; 52 (mehr als die Hälfte) kamen aus der Unterschicht; 14 Personen waren selbstständige Unternehmer, zum Beispiel Ladenbesitzer. Zwei Drittel gingen zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung einer Erwerbsarbeit nach, die größte Gruppe stellten dabei die ungelernten Arbeiter. Das Altersspektrum reichte von 16 bis 62, die meisten waren zwischen Mitte und Ende zwanzig. Fast die Hälfte war verheiratet, verlobt oder geschieden, die meisten von ihnen hatten Kinder; ein Fünftel war alleinstehend. Auffällig war, dass fast ein Fünftel zuvor bereits wegen eines nicht terroristischen Delikts von einem Gericht verurteilt worden war. 29
Einige große Untersuchungen zur Demografie und Psychologie von Terrorismusrekruten haben gezeigt, dass schwierige Lebensumstände, unter anderem Armut und Gewalt, bei der Radikalisierung oder Anwerbung von Terroristen nur selten eine bedeutende Rolle spielen. Allenfalls trifft das Gegenteil zu, denn in den Dschihad hineingezogen werden aus der Mittelschicht stammende und gut ausgebildete Muslime. Bei diesen Menschen besteht eine größere Wahrscheinlichkeit, dass sie ein Gefühl der Schande oder Erniedrigung empfinden . Häufiger hegen sie auch Hoffnungen und Ambitionen, die ihrer Ansicht nach von denselben westlichen Kräften vereitelt wurden, die, so sehen sie es, in die islamischen Länder einfallen – und außerdem den Wunsch zur Verklärung der eigenen Person, die durch Märty rertum erreicht werden kann. 30
»Die rein materiellen Bedingungen erklären in Bezug auf den Terrorismus gar nichts, sonst würden Terrorakte häufi ger von den ärmsten Menschen verübt, die zugleich in den ärmsten Gegenden leben, und das ist nicht der Fall«, heißt es in einer großen Untersuchung zur Psychologie der Anwerbung von Terroristen. »Die psychologische Forschung verweist auf die grundlegende Bedeutung der empfundenen Herabsetzung. […] Wachsende Frustration hat bei der großen Bevölkerungsgruppe, die gesellschaftlich ganz unten steht, größere Sympathien für ein extremistisches, ›gegen das Establishment gerichtetes‹ Handeln aufkommen lassen.« 31 Menschen, die unter einer tatsächlichen Herabsetzung leiden, haben we der Zeit noch eine Neigung zu terroristischen Zusammenschlüssen. Viele der berühmtesten Dschihadisten, unter anderem auch Mohammed Atta und Osama bin Laden, waren an Universitäten ausgebildete Techniker und Ingenieure.
»Sie sind alle integriert, verwestlicht und gut ausgebildet«, sagt Olivier Roy über die Terroristen im Westen. »Sie haben keinen besonders auffälligen sozialen Hintergrund, mit dem sich ihre politische Radikalisierung durch Armut oder einen Ausschluss aus der Gesellschaft erklären ließe. Und fast alle werden im Westen ›wiedergeboren‹. […] Der Ursprung der Radikalisierung ist der Westen und nicht der Dschihad oder die Konflikte im Nahen Osten. Keiner radikalisierte sich im Anschluss an religiöse Studien, die in einem Land mit muslimischer Mehrheit betrieben und abgeschlossen wurden. Und schließlich verging bei fast allen zwischen der Rückkehr zur Religion und dem Übergang zur politischen Radikalisierung nur sehr wenig Zeit, was beweist, dass sie sehr stark, wenn nicht sogar stärker an Politik interessiert sind als an Religion.« 32
War der islamistische Terrorismus ein natürlicher Auswuchs der konservativen religiösen und politischen Überzeugungen der Einwanderer und ihrer Kinder? Oder glich er eher der Welle des linksextremen Terrorismus, die in den 1960er- und 1970er-Jahren durch die Vereinigten Staaten und Europa schwappte? Damals schlossen sich Tausende hauptsächlich der Mittelschicht entstammender junger Leute einer gefährlichen Bewegung an, die sich selbst im Widerstand gegen die sie umgebende Kultur sah und über Organisationen wie den Weather Underground und die Rote Armee Fraktion Hunderte von Bombenanschlägen verübte.
Die Demos-Forscher stellten in ihrer Untersuchung zu religiösen Extremisten und gewalttätigen radikalen Kräften fest, dass der von al-Qaida ausgehende Reiz weder auf der Theologie noch auf der weiter ausgreifenden Ideologie beruhte, sondern auf dem Image des
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