Mythos Ueberfremdung
antiautoritären Radikalis mus: »Einen zunehmend wichtigen Teil von al-Qaidas Anziehungskraft im Westen machen die gefährlichen, romantischen und gegenkulturellen Merkmale aus. […] Das Netzwerk wird zu einer Verbindung von giftiger Ideologie und jugendlichem Radikalismus, zu etwas, dessen Wesen sich gegen das Establishment richtet, und das macht es für manche junge Leute attraktiv. […] Der von al-Qaida inspirierte Terrorismus im Westen hat viel mit den anderen gegenkulturellen und subversiven Gruppen gemeinsam, die vor allem aus zornigen jungen Männern bestanden.« 33
Olivier Roy hält fest, dass der dschihadistische Terrorismus »viele Faktoren mit anderen Formen der – entweder politischen oder verhaltensbezogenen – Nichtübereinstimmung gemeinsam hat«. Die meisten radikalisierten Personen haben mit ihren Familien gebrochen. Sie sprechen nicht von islamischer Tradition oder von Fatwas, sondern handeln eher auf individueller Basis und außerhalb der üblichen Bin dungen an Familie, Moschee und islamische Vereinigung. Der moderne islamische Terrorismus ist »ein Avatar des ultralinken Radikalismus, seine Ziele sind dieselben, die auch die Ultralinken traditionell im Visier haben – der US-Imperialismus und die Symbole der Globalisierung.«
Die Söhne von Einwanderern, die sich dem gewalttätigen Dschihad zuwenden, werden ironischerweise von einer Weltsicht angetrieben, die exakt den Vorstellungen der antimuslimischen Aktivisten entspricht. Sie sind der Ansicht, dass es zwei nicht miteinander zu versöhnende Kulturen gebe, deren eine die andere durch Infiltration und Aggression zu beherrschen suche, und dass sie kämpfen müssten, um ihre Traditionen und Werte vor den Außenstehenden zu schützen. Diese Vorstellung ist, aus welcher Perspektive sie auch kommen mag, falsch und gefährlich. Die Bedrohung durch den Extremismus bleibt weiterhin ernst genug, sodass wir auf die Bekämpfung der ihm zugrunde liegenden Philosophien und psychologischen Ursachen Sorgfalt und Aufmerksamkeit verwenden müssen. Wir wissen heute, dass die »kulturellen« Vorstellungen der Terroristen von anderen muslimischen Einwanderern und deren Kindern nicht geteilt werden, dass sie weder aus ihrem ethnisch geprägten Wohnumfeld entstehen noch sich aus ihrer religiösen Praxis ergeben, so streng diese auch sein mag.
Wir müssen uns mit einer Gruppe neuer Einwanderer befassen – mit einer großen, aber nicht der größten unter diesen Gruppen –, die aus einem armen und religiösen Umfeld zu uns kommen, die die sozialen, politischen und familienplanerischen Verhaltensmuster ihrer neuen Heimatländer übernehmen, deren Fortkommen aber im wirtschaftlichen Bereich, in der Bildung und Ausbildung und deshalb auch auf sozialer Ebene manchmal von Institutionen unterbunden wird, die ihnen Chancengleichheit gegenüber ihren einheimischen, im Land geborenen und aufgewachsenen Nach barn verweigern. Viele Menschen im Westen empfinden das als ein noch nie da gewesenes Phänomen. Aber im nächsten Teil werden wir sehen, dass dieses Geschehen alles andere als beispiellos ist. Wir haben das alles schon einmal durchgemacht.
6 Die tatsächliche Zahl ist möglicherweise geringer, weil diese Angaben auch Terrorakte wie etwa die Beltway Sniper Attacks vom Oktober 2002 einschließen, Angriffe zweier Heckenschützen auf willkürlich ausgewählte Opfer im Großraum Washington, D.C., bei denen keine offensichtlichen islamistischen oder dschihadistischen Motive vorliegen, die aber von Muslimen begangen wurden.
Dritter Teil Das hatten wir schon einmal
Das hatten wir schon einmal
E s liegt in der Natur des menschlichen Geistes, Vergangenes zu komprimieren und zu vereinfachen, sodass die Traumata und Krisen der jüngeren Geschichte kürzer und einfacher erscheinen, als sie in Wirklichkeit waren. Vergleichbare Ereignisse, die in unsere eigene Lebenszeit fallen, wirken komplexer, weniger vorhersagbar und auch nicht so leicht lösbar. Psychologen bezeichnen dieses Phänomen als »Rückschaufehler« (»hindsight bias«): Die Dinge wirken größer und beständiger, wenn sie noch nicht vorbei sind.
Die Ankunft von Millionen Menschen in unseren Heimatländern – Menschen, die arm waren und einer religiösen Minderheit angehörten – war eine traumatische, politisch umstrittene, manchmal sogar gewalttätige Angelegenheit, die über fast zwei Generationen hinweg regelmäßig auf den Titelseiten erschien und in unserem politischen Bewusstsein einen wichtigen
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