Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
eine Freundin besuchen, die dort arbeitet. Die Abteilung der Freundin befindet sich im dritten Stock, also benutze ich den Fahrstuhl. Im ersten Stock steigt ein älteres Ehepaar zu. Als sich die Türen schließen, sagt die Frau zu ihrem Mann – so laut, dass ich es hören kann: »Rudi, meinst du, es war eine gute Idee zu dieser fetten Kuh in den Fahrstuhl zu steigen?« Sonst bin ich eigentlich nicht auf den Mund gefallen, aber das hat mich sprachlos und empört gemacht …
Ein krasser Einzelfall? Oder sind wir alle Teil einer Gesellschaft, in der Menschen wegen ihrer Figur und ihrer Körperfülle ständiger Kritik ausgesetzt sind – die manchmal unverhohlen, meist jedoch unterschwellig ausgedrückt wird? Und wenn das so ist, wo beginnt die Diskriminierung? Einen Menschen als »fette Kuh« zu bezeichnen ist eindeutig beleidigend. Was aber, wenn wir jemandem eine Diät anraten, den wir für übergewichtig halten? Wenn wir ihn kritisieren, weil er unserer Meinung nach zu viel isst und zu wenig Selbstdisziplin aufbringt, um abzunehmen? Wenn wir ihn unmöglich finden, weil er überhaupt nicht abnehmen, sondern »so bleiben will, wie er ist«? Wie fühlen sich Menschen, die befürchten müssen, angestarrt zu werden, sobald sie ihre Wohnung verlassen? Die solche Reaktionen schon so oft erlebt haben und denen es nicht immer gelingt, zu überhören, was im Vorbeigehen über sie gesagt wird? Wie wohl und wie frei und ungezwungen kann man sich als dicker Mensch in Deutschland in der Öffentlichkeit fühlen? Wie schauen mich Passanten an, wenn ich als dicker Mensch in der Öffentlichkeit esse? Wie gut sind meine Chancen, einen Job zu bekommen, wenn ich dicker bin als meine Mitbewerber? Gibt es in Deutschland heimliche Berufsverbote für dicke Menschen, oder werden Menschen aufgrund ihrer Körperfülle sogar offiziell von bestimmten Berufen – und wir reden hier nicht von Supermodels oder Kampfjet-Piloten – ausgeschlossen?
Normal oder diskriminierend? Wie dicke Menschen zu einer unterdrückten Gruppe wurden
Ein häufig übersehener Aspekt an Diskriminierungen besteht darin, dass wir sie meist erst dann als solche erkennen, wenn unser Bewusstsein dafür geschärft wurde; wenn etwas bewirkt hat, dass wir die Muster alten Denkens verlassen. Es gab Zeiten – und das ist noch gar nicht so lange her –, als es ganz normal war, einen Menschen mit dunkler Hautfarbe als Neger zu bezeichnen oder anzunehmen, dass Frauen weniger intelligent sind als Männer. Wir würden solche Gedanken heute natürlich von uns weisen. Aber wie war das vor – sagen wir – vierzig Jahren?
Im Jahr 1972 veröffentlichte John Lennon einen Song unter dem provokanten Titel »Woman is the Nigger of the World«. Der Inhalt prangert einen gesellschaftlichen Zustand an, der damals, zu Beginn der 1970 er Jahre, kaum ein öffentliches Thema war – Begriffe wie »Emanzipation« und »Frauenbewegung« waren noch weitgehend unbekannt. Im Wesentlichen weist der Liedtext darauf hin, dass Männer Frauen unterdrücken und ausbeuten – egal, welcher sozialen Schicht sie angehören, welche Kultur sie geprägt hat oder welcher ethnischen Herkunft sie sind. »If you don’t believe me, look at the one you’re with«, heißt es im Refrain. Jeder Mann wird in Lennons Song zum potenziellen Unterdrücker der Frau an seiner Seite. Mit dem bösen N-Wort im Titel machte er außerdem unmissverständlich klar, dass es nicht ausreicht, Frauen ein paar mehr Rechte zuzugestehen. Es ging ihm – und seiner Frau Yoko Ono, von der das Zitat der Titelzeile stammt – um den unerträglichen Zustand der Unterdrückung von Frauen. Diskriminierung, so die schlichte und zornige Botschaft, kann ebenso eine Frage der Geschlechter wie der Hautfarbe sein, und sie existiert uneingeschränkt, solange Menschen wegsehen und schweigen oder einfach die gelernten Vorurteile nachplappern. Der Song hat kurz nach seiner Veröffentlichung übrigens nur für mäßiges Aufsehen gesorgt. Einige amerikanische Radiostationen haben ihn wegen seines Titels boykottiert, aber nur, weil sie Proteste aus der afroamerikanischen Bevölkerung fürchteten. Rassendiskriminierung war in den USA durch die Bürgerrechtsbewegung der Black Panthers, durch Martin Luther King und andere Aktivisten bereits zu einem großen gesellschaftlichen Thema geworden, die Unterdrückung der Frauen aber noch nicht. Hier waren die alten Denkmuster weitgehend intakt. Lennons Intention bestand darin, diese Denkmuster in Frage zu stellen.
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