Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
Stresssystem runterzufahren und die Cortisolwerte zu senken. So wird den allostatischen Belastungen des Hoch-Cortisol-Zustandes, also der Beschleunigung von Alterungsprozessen, entgegengewirkt. Die Gewichtszunahme oder Fettleibigkeit ist quasi eine Nebenwirkung – der Preis für eine erfolgreiche Stressdämpfung.
Menschen des Stresstyps A bleiben in stressvoller Umgebung meist hingegen lange schlank, entwickeln nach einigen Jahren aber einen so genannten Cortisolbauch. Ihr Taillenumfang wächst. Diese Form der Fettansammlung stellt ebenfalls eine Anpassungsstrategie an Dauerstress dar. Genauer gesagt, ist der wachsende Bauch eine Folge dauerhaft erhöhter Stresshormone im Körper und wird zum »Outsource«-Energiedepot des Gehirns. Tatsächlich ist der Cortisolbauch ein Zeichen für ein dauerhaft aktiviertes Stresssystem. Die Psychiatrieprofessorin Elissa Epel von der University of California in San Francisco hat darauf hingewiesen, dass der »Stressbauch« gut als medizinischer Marker taugt, der anzeigt, wie groß die allostatische Last in den letzten Jahren und Jahrzehnten war. Da ein Bauch klinisch einfach zu erfassen ist (Maßband), hat man also einen greifbaren Risikomarker, welcher anzeigt, wie stark ein dauerhaft aktiviertes Stresssystem die Gefäße schädigt (Arteriosklerose), das Herz-Kreislauf-System belastet und so das Risiko für Herzinfarkte oder Schlaganfälle erhöht.
Als kritisch gilt ein Taillenumfang dann, wenn bei Frauen der so genannte Taillen-Größen-Index 2 größer ist als 0 , 48 (bei Männern > 0 , 53 ). Diese Betrachtung macht deutlich, warum die ganze Diskussion um das so genannte »Übergewicht«, das ja den gesamten Körperumfang ( BMI ) berücksichtigt und nicht speziell das Verhältnis vom Bauchumfang zum Körper, ins Leere läuft. Denn in Wirklichkeit gibt es so etwas wie »Übergewicht« gar nicht. Es gibt lediglich verschiedene Formen der Anpassung des Körperfettgewebes an den tatsächlichen Energiebedarf des Gehirns in unterschiedlich gefährlichen Umgebungen. Damit können gesundheitliche Risiken einhergehen, die aber nicht zwangsläufig mit höherem Körpergewicht verbunden sind. Die Personenwaage als Instrument zur Feststellung eines erhöhten Herz-Kreislauf-Risikos hat also ausgedient.
An dieser Stelle wird sich mancher Leser fragen, wie man erkennen kann, zu welchem Typ man gehört und ob der eigene Bauch cortisolbedingt ist – oder nicht. Absolute Gewissheit über den Anteil des abdominalen Fetts im Bauchraum kann nur eine Computertomographie geben. Mit diesem bildgebenden Verfahren lässt sich exakt darstellen, wie viel Fett sich zwischen den Darmschlingen befindet. Wer die typische Silhouette eines Stress-A-Typs aufweist (kugelrunder Bauch, dünne Arme und Beine, schmale Hüfte) kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sein Bauchfettanteil hoch ist.
Wenn wir nun die gesamte Bevölkerung unter dem Aspekt von Cortisolbelastungen betrachten, kommen wir zu zwei Möglichkeiten, wie sich die menschliche Erscheinungsform verändern kann (siehe Abbildung 5):
Typ A. In einer ruhig-sicheren Umgebung ist Typ A schlank und weist keine erhöhten Cortisolwerte auf. Wer als A-Typ unter diesen Bedingungen lebt, verfügt über einen ausgeglichenen Hirnstoffwechsel, ein ausbalanciertes Stresssystem in Ruhelage; weder im Gehirn noch im Körper läuft ein Energie-Sparprogramm, Alterungsprozesse vollziehen sich langsamer als bei den Dauergestressten. Das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist unauffällig. Mit einer Zunahme des Körpergewichts ist nicht zu rechnen.
In einer stressvoll-gefährlichen Umgebung hingegen verändern Typ-A-Menschen ihre Erscheinungsform. Ihre Cortisolwerte sind dauerhaft erhöht. Die Ausbildung eines Cortisolbauchs ist eine typische Folgeerscheinung. Ihr restliches Körperfett bleibt gleich oder nimmt sogar ab. Auch Muskelmasse und Knochenmasse nehmen ab. Ihr Gedächtnis wird schlecht, ihre Stimmung auch. Die Fortpflanzungfähigkeit nimmt bei Mann und Frau ab. Die allostatische Last dieser Menschen ist hoch, das Risiko von Herz- und Kreislauf-Erkrankungen ist erhöht, die Lebenserwartung deutlich verkürzt.
Abb. 5: Weshalb Stress schlank oder dick machen kann
Sich dauerhaft in stressvoller Umgebung aufzuhalten – etwa familiär oder beruflich – führt zu einem hochaktiven Stresssystem. Auf chronischen Stress reagieren Menschen genetisch bedingt unterschiedlich. A-Typen bleiben unter Dauerstress schlank oder nehmen zunächst sogar weiter
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