Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
experimentellen Befunde zum Verständnis nachzuweisen. Die Nervenzellen des PFC verfügen über ein komplexes System, das man als DSI -Schalter bezeichnet. DSI steht für »Depolarisationsinduzierte Suppression der Inhibition« – also um erregungsbedingte Abnahme der Unterdrückung eines Informationsflusses. (Wer gerne mehr über die Funktionsweise des DSI -Schalters erfahren möchte, findet die neurobiologischen Mechanismen in der Grafik » Wie kommt es im Gehirn zu Gewöhnung? « (Abbildung 10)) Hinter diesem Wortungetüm steht ein biochemisches Prinzip, mit dem in der belebten Natur Schalterfunktionen ausgeführt werden können. Vereinfacht dargestellt, geht es darum, wie Nervenzellen lernen, mit Hilfe von Endocannabinoiden (das sind körpereigene Botenstoffe, die chemisch mit dem Rauschmittel Cannabis verwandt sind) relevante Stressoren von irrelevanten zu unterscheiden, und wie es dem PFC möglich ist, aufgrund von Stresserfahrungen die Stressantwort der Amygdala immer dann zu hemmen, wenn keine konkrete Gefahr besteht.
So eine Situation erleben wir zum Beispiel im Kino, wenn wir einen spannenden Film ansehen. Es wird eine gefährliche Situation gezeigt – und die Amygdala reagiert mit Erregung, weil sie eine virtuelle Gefahr nicht von einer realen unterscheiden kann. Das kann aber der PFC und dämpft die Stressantwort der Amygdala (sonst würde es kaum ein Mensch bei einem Horrorfilm im Kino aushalten). Diese Aufgabe ist für die Nervenzellen des Gehirns auch deshalb außerordentlich anspruchsvoll, weil trotz aller Dämpfungsmaßnahmen des PFC eine schnelle und direkte Stressantwort der Amygdala jederzeit möglich sein muss, nämlich bei einer realen Gefahr. Solch eine Situation erlebten auf besonders dramatische und tragische Weise die Zuschauer bei der Vorführung eines Batmanfilms am 24 . Juli 2012 in der amerikanischen Stadt Aurora. Während der Film lief und die PFC s der Zuschauer damit beschäftigt waren, die Amygdala angesichts der Action auf der Leinwand zu dämpfen, begann plötzlich ein Amokläufer im Kino wild um sich zu schießen. Aus der virtuellen Gefahr der Filmgewalt wurde plötzlich eine reale Gefahr für Leib und Leben der Kinobesucher. Nach einer kurzen Phase der Desorientierung gelang es den meisten Zuschauern sehr schnell, zu begreifen, dass die Schüsse, die sie jetzt hörten, echt waren, und sie konnten sich dementsprechend verhalten. Ihr Gehirn schaltete in Sekundenbruchteilen vom Zuschauer- in den Fight-or-flight-Modus um. Was in diesem Fall vor allem bedeutete, irgendwo Deckung zu suchen.
Die Fähigkeit, zwischen konkreten und irrelevanten Stressoren zu unterscheiden, gilt aber natürlich nicht nur für Kinobesuche oder extreme Gefahrensituationen, sondern für nahezu alle Lebenslagen, bei denen es brenzlig werden könnte (dass uns ein bestimmter Hund gebissen hat, muss nicht bedeuten, dass alle Hunde gefährlich sind usw.). Diese Fähigkeit zur Stress-Reiz-Selektion ist eigentlich eine wunderbare Einrichtung unseres Gehirns, die dafür sorgt, dass wir uns nur dann aufregen müssen, wenn es Sinn macht.
Aber warum sind dann so viele Menschen dennoch chronisch gestresst? Und warum werden einige Menschen unter dem Einfluss von chronischem Stress dick und andere nicht? Die Antwort lautet: Für uns Menschen hat die Evolution offenbar zwei verschiedene Stressstrategien vorgesehen. Und damit wären wir wieder bei den Wasserkrebsen der Typen A und B, die mit Raubfischen konfrontiert werden. Auch im menschlichen Haifischbecken gibt es nämlich solche genetisch verschiedenen A- und B-Typen, also Menschen mit flacher und steiler Reaktionsnorm. Und die genetischen Unterschiede zwischen den Typ-A- und -B-Menschen liegen genau in den Genen begründet, welche die Bauteile des Endocannabinoid-Systems kodieren. Damit haben die beiden Typen unterschiedlich empfindliche DSI -Schalter im PFC : Beim Typ A springen im Stress die DSI -Schalter nur sehr schwergängig – wenn überhaupt – um (diese Menschen habituieren nicht); beim B-Typ geschieht dies hingegen sehr viel leichter (sie habituieren). Und diejenigen mit der steilen Reaktionsnorm, also gewissermassen die »Krebstierchen« unter uns, die sich durch phänotypische Plastizität anpassen können, indem sie sich einen spitzen Helm wachsen lassen, sind die dicken Menschen. Gewichtszunahme ist das wesentliche Merkmal phänotypischer Plastizität von Menschen im Haifischbecken, und diese schützt vor den Folgen psychosozialen Dauerstresses. Die
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