Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
deutlich, dass die emotionale Reaktivität auf sozialen Stress – wie er auch in der Testsituation entsteht – vermindert ist und außerdem die Cortisolanstiege deutlich flacher ausfallen. Und das gilt nicht nur für schlanke Menschen des Stress-Typs A, sondern auch für B-Typen: In einer weiteren Studie wurde ein derartiges Achtsamkeitstraining bei Menschen mit erhöhtem BMI (Stresstyp B) durchgeführt. Auch hier zeigte das Training ein Absinken der Cortisolkonzentrationen, und außerdem stabilisierte sich das Körpergewicht (in der Kontrollgruppe blieb Cortisol erhöht, und es kam zu einer weiteren Gewichtszunahme). Tatsächlich konnte sogar nachgewiesen werden, dass sich bei den Probanden unter der Wirkung des Achtsamkeitstrainings das stressbedingte innere Bauchfett zurückbildete. Diese Effekte von Achtsamkeits-Trainingsprogrammen zur Stressreduktion sind vielversprechend, doch sie beantworteten bisher nicht die Frage, ob sie auch die Lebensdauer verlängern können.
Doch genau diese Lücke schließen jetzt zwei schwedische Evidenzklasse- 1 -Studien aus Stockholm und Uppsala, die 2009 und 2011 veröffentlicht wurden. Teilnehmer waren Patienten mit Herzkranzgefäß-Erkrankungen, die ein Stressreduktionsprogramm absolvierten. Ausgangspunkt der Studien waren die auch in diesem Buch bereits angeführten klinischen Belege, dass chronischer Stress zu arteriosklerotischen Veränderungen der Herzkranzgefäße führt, womit die Wahrscheinlichkeit für einen Herzinfarkt steigt. Die Teilnehmer der Uppsala- und der Stockholm-Studie hatten alle bereits einen Herzinfarkt erlitten. Daraufhin wurde bei ihnen eine kognitive Verhaltenstherapie durchgeführt. Diese beinhaltete 20 Therapiesitzungen à zwei Stunden, die sich über den Zeitraum von einem Jahr erstreckten. Die Therapiesitzungen fanden in Gruppen mit einer Teilnehmerzahl zwischen vier und neun Personen statt. Das Ergebnis beider schwedischer Studien war eindeutig: Die Studienteilnehmer, die das Stressreduktionsprogramm erhielten, blieben fast alle von einem zweiten Herzinfarkt verschont, während die Teilnehmer der Kontrollgruppe, die dieses Training nicht bekamen, häufig einen Zweit- oder Drittinfarkt erlitten. Dementsprechend war in dieser Gruppe auch die Sterberate deutlich höher. Die Ergebnisse der beiden Untersuchungen belegen eindeutig, dass kognitive Verhaltenstherapie in der Lage ist, die Ursache für die Herz-Kreislauf-Probleme der Studienteilnehmer – nämlich den Stress – direkt zu bekämpfen und somit das Leben zu verlängern.
Es geht aber nicht nur um das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und um die Frage der Lebenserwartung. Toxischer Stress ist, wie wir gesehen haben, mit dem Körpergewicht ursächlich verknüpft. Wenn Gewichtszunahme also eine Strategie ist, sich an toxischen Stress zu habituieren, was passiert, wenn dieser Mensch der Stressfalle, in die er geraten ist, entkommt?
Wann wird Stress chronisch? Wenn wir gegen unsere tiefen Bedürfnisse handeln oder von ihnen abgehalten werden?
An der Universität von Südkalifornien unterrichtet und praktiziert seit über dreißig Jahren die Psychologin Laurel Mellin. Sie ist so etwas wie eine Pionierin in der Behandlung von toxischen Stresserkrankungen, die mit erhöhtem Körpergewicht einhergehen. Ich bin bereits im ersten Buch auf ihre Arbeiten näher eingegangen. Sie erarbeitet mit Jugendlichen und Erwachsenen Konfliktlösungsstrategien. Dabei geht es zunächst darum, sich der eigenen tieferen Bedürfnisse bewusst zu werden. Chronischer oder toxischer Stress entsteht ja immer dann, wenn wir selbst gegen unsere Bedürfnisse handeln oder von ihnen ferngehalten werden. Im zweiten Schritt durchlaufen Mellins Patienten eine Art Training. Sie lernen situativ ihre Bedürfnisse zu erkennen, darauf einzugehen, sie zu artikulieren und auch Dritten gegenüber zu äußern und diese um Unterstützung zu bitten. In der Tabelle oben wird – sehr vereinfacht – an Fallbeispielen erklärt, wie Mellins Interventionen funktionieren.
Wie gesagt: Die in dieser Tabelle geschilderten Interventionen sind natürlich nur ein sehr kleiner Ausschnitt aus dem therapeutischen Repertoire Mellins. Viele Komponenten ihrer Vorgehensweise finden sich auch in der achtsamkeitsbasierten kognitiven Verhaltenstherapie wieder. Hier soll anhand von Beispielen deutlich werden, worum es ihr im Wesentlichen geht: Bedürfnisse erkennen, benennen und – sehr wichtig – den Menschen gegenüber, deren Verhalten als Stressor
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