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Mythos

Mythos

Titel: Mythos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus C Schulte von Drach
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schon auf. Hatte das Personal nach der Reinigung vergessen abzuschließen?
    Auf den ersten Blick erschien ihr alles normal. Dann fiel ihr auf, dass das Bettlaken nicht vollständig unter die Matratze gestopft war. Ihr Rucksack stand neben ihrem Schrank, aber dichter, als sie es in Erinnerung hatte. Das Personal … vielleicht.
    Nein. Sie belog sich selbst. Jemand war hier gewesen.
    Erst der Diebstahl, jetzt das …
    Verdammt, sie war hier nicht mehr sicher.
    Sie stopfte ihre Habseligkeiten in ihren Rucksack und ihre Ledertasche. Ohne die Frau an der Rezeption eines Wortes zu würdigen, lief sie nach draußen.
    Auf der Avenida de Menéndez Pelayo herrschte wie immer starker Verkehr.
    Da! Auf der anderen Straßenseite stand ein großer Mann, halb verdeckt hinter der langen Reihe von gelben Müllcontainern. Dann trat er aus dem Schatten. Blond. Jung. Langsam wurde sie paranoid. Sie lief in die Seitenstraße und stieg in ihren Mietwagen.
    Unterwegs versuchte sie im Rückspiegel zu erkennen, ob ihr jemand nachfuhr. Wieder fiel ihr nichts auf. Aber inzwischen zweifelte sie ernsthaft an ihren Fähigkeiten, einen Verfolger zu bemerken.
    Samstag, 6. Juni, Kismaayo, Somalia
    Brea MacLoughlin schaute auf die leeren Blätter in ihrem Schoß. Über ihr lärmte ein großer Schwarm von Blutschnabelwebervögeln. Seit einer Stunde saß sie nun auf einem Stein unter einem der Eukalyptusbäume vor ihrer Hütte und hatte noch kein einziges Wort geschrieben.
    Weil sie keine Worte fand. Wie konnte sie schreiben über das, was sie gesehen hatte? Mit welchen Worten ließ sich das Grauen vermitteln, wenn andere nur darüber lesen würden, ohne zu sehen, wie Blut sich mit Sand vermischt, ohne die Ausdünstungen einer aufgeregten Menschenmenge zu riechen, die heiße Luft zu spüren, die innere Kälte bei dem Gefühl der Hilflosigkeit und Verzweiflung? Und was würde es nützen?
    Sie dachte an einen Spruch von Richard Capa: „Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, dann warst du nicht nah genug dran.“ Capa war im 20. Jahrhundert Kriegsfotograf gewesen. Allerdings hatte er nicht gemeint, man sollte in Gewehrläufe fotografieren. Man musste nah dran sein, aber vor allem musste man wissen, worum es ging. Daran hielt sie sich.
    Brea MacLoughlin hielt sich noch an einen zweiten Spruch des Fotografen: „Die Wahrheit ist die beste Propaganda.“
    Ihr Medium, über das sie die Wahrheit zu zeigen versuchte, waren nicht die Nahaufnahmen des Wahnsinns. Die Fotografen zauberten mit ihren Objektiven, Blenden, Belichtungszeiten, mit stimmungsvollem Kontrast und der richtigen Körnung die gewünschte Atmosphäre in ihre Bilder. Sie dagegen zeichnete ihre Bilder mit Wörtern, Sätzen, Metaphern, löste Assoziationen aus, mit denen Menschen die Wahrheit selbst heraufbeschworen. Und sie hatte gehofft, dass die Leser ihrer Artikel die Peripetie erlebten, jenen Punkt, wo sie sich mit den Opfern identifizierten und es zu einem Wendepunkt in ihren Lebensdramen kam. Einem Punkt, wo sie sich nicht mehr nur zurücklehnten, über die Schlechtigkeit der Welt seufzten, an ihrem Caffè Crema nippten, die Zeitung zuschlugen und die Sache als Problem anderer Leute abhakten, an dem man selbst nichts ändern konnte.
    Sie blickte durch den Spalt des Schleiers in die Baumkrone hinauf. Die Äste bildeten Büschel von Blättern, die aus der Ferne an Blumenkohl erinnerten. Dazwischen hatten die Vögel eine Reihe von runden Nestern aus Grashalmen gebaut. Die unscheinbaren Weibchen hockten auf den letzten Eiern, die sie zum Ende der Regenzeit noch gelegt hatten. Die roten Schnäbel der Männchen und ihre rot gefärbten Brust- und Scheitelfedern erinnerten tatsächlich an Blut.
    Ein schlanker Schatten löste skohten löich für einen Sekundenbruchteil von einem der Äste, dann war er wieder verschwunden. Nach einer Weile konnte MacLoughlin die Konturen der Schlange erkennen. Ein unscheinbares, braunes Tier, knapp einen Meter lang, auf dessen Rücken in der Sonne hier und da weiße Schuppen aufblitzten. Die Schlange schob ihren Kopf in eines der Nester. Das Vogelweibchen stob daraus hervor und flatterte aufgeregt herum.
    Vielleicht war das Stadion von Kismaayo zum Ort ihrer eigenen Peripetie geworden – im negativen Sinne. Sie wusste jetzt, dass einfach keine Worte existierten, um Menschen begreiflich zu machen, was dort geschehen war. Und es würde immer wieder geschehen, so oder auf ähnliche Weise. Glaubte sie, sie könnte die Mühlsteine anhalten, zwischen denen die Opfer seit

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