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Mythos

Mythos

Titel: Mythos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus C Schulte von Drach
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geklungen.
    „Zuletzt an Weihnachten. Davor im Oktober, im Sommer, an Ostern und letztes Jahr Weihnachten auch. Und …“
    Er hatte nicht gelacht. „Schon gut. Also, wann kommst du?“
    „Ich erledige noch diese Sache in Peru. Das kann ich mir wirklich nicht entgehen lassen.“
    „Ich kann mir jederzeit Urlaub nehmen.“ Das hatte er ohne große Hoffnung erklärt.
    „Ja“, hatte sie zugestimmt, aber es war ihr nicht gelungen, Begeisterung in ihre Stimme zu legen. Wenn sie wenigstens ehrlich zu ihm sein würde. Aber das schaffte sie nicht. Sie wollte allen gegenüber fair sein, aber ausgerechnet ihm gegenüber war sie unfair, und das tat ihr selbst weh. Aber irgendwie war er auch unfair, wenn er versuchte, sie nach Hause zu locken. Er war unfair, wenn er ihr vorwarf, mit der Not anderer Menschen Geld zu verdienen. Tod und Verzweiflung waren ihr täglich Brot.
    Meinte er tatsächlich, sie sei ein Parasit des Elends? Sie hatte ihm eine Ohrfeige gegeben, als er so etwas angedeutet hatte. Dann hatte sie mit Scham an die Begeisterung gedacht, die sie jedes Mal erfasste, wenn sie auf eine richtig gute Story stieß. Ihre schäbige Hoffnung auf den Pulitzer-Preis. Natürlich waren Geld, Ruhm und Auszeichnungen ihr Lohn. Sie würde Kapital schlagen aus dem Tod des 13-jährigen Mädchens, das in Kismaayo gesteinigt worden war. Gestern hatte sie ihren Text an die Irish Times geschickt, heute müsste er veröffentlicht worden sein. Aber, verdammt noch mal, sie hatte doch selbst ihr Leben riskiert, um darüber berichten zu können. Um die zivilisierte Welt darüber zu informieren, was jenseits ihrer Grenzen geschah. Sie war der Vermittler des schlechten Gewissens – warum sollte sie selbst eines haben? Sie tat doch wenigstens etwas. Oder nicht?
    Aber Brian hatte recht. Sie hatten dieses Gespräch schon zu oft geführt.
    Sie hatte es versucht. Sie hatte es wirklich versucht. Sie war ein Jahr in Dublin geblieben, hatte sich wie Brian, statt sich um ihr Spezialgebiet, den Wahnsinn religiöser und ethnischer Fundamentalisten, zu kümmern, nationalen politischen Themen gewidmet. Sie hatte versucht, sich zuBricht, si entspannen. Sie hatte eine gute Zeit gehabt – nur um festzustellen, dass sie dabei immer frustrierter wurde angesichts des Gejammers der Leute um sie herum.
    Bei jedem Einkauf im Supermarkt hatte sie ratlos vor der Vielfalt an bunten Dosen und Plastikbechern gestanden – und sich in den Kongo zurückgesehnt, wo jede Entscheidung kristallklar und einfach war. Nicht das, was gegessen und getrunken wurde, musste überlegt sein, sondern woher man etwas bekam. Dort hatte sie ihre verschwitzten Kleider eine Woche nicht ausgezogen und mit schlechtem Gewissen Bushmeat gegessen, in der Hoffnung, dass nicht auch Gorillafleisch darunter gewesen war.
    In Irland waren ihr Verkäuferinnen mit Vorschlägen für Schuhe, die zu ihrer Augenfarbe passten, auf die Nerven gegangen. Sie hatte im Supermarkt fast ein Kind geschlagen, das herumgebrüllt hatte, weil die Zahnpasta mit den roten Streifen gerade nicht im Sortiment enthalten war. Sie hatte die Kleine angezischt, anderswo würden Kindern die Zähne im Mund verfaulen, wenn sie überhaupt alt genug wurden, welche zu bekommen. Die erschöpfte Mutter hatte sich schützend vor ihren Giftzwerg gestellt und MacLoughlin angeschaut, als wolle sie ihr die abgekauten Fingernägeln ins Gesicht schlagen.
    Es hatte sie wieder aus der Stadt getrieben, aus dem Land, irgendwohin, wo die Menschen sich gegenseitig umbringen. Und wo sich die Überlebenden so lebendig fühlen, wie es niemand begreifen konnte, der es nicht erlebt hatte.
    „Dann machen wir vielleicht zusammen Urlaub“, hatte MacLoughlin schließlich leise zu Brian gesagt und gewusst, dass es dazu nicht kommen würde.
    Jetzt, in diesem Augenblick wurde es ihr klar: Sie würde sich von Brian trennen. Ihm zuliebe. Sie würde ihn nicht mehr ausnutzen. Sie fühlte sich plötzlich leicht, und zugleich wurde ihr schwer ums Herz. Seit Kismaayo war sie sich ihrer selbst nicht mehr sicher. Sie hatte so viel Leid gesehen. Und sie hatte es geschafft, damit zu leben. Bis jetzt jedenfalls. Aber wenn es eine Skala der sinnlosen Bösartigkeiten gab, dann stand die Hinrichtung dieses 13-jährigen Mädchens in Somalia ganz oben. Sie hatte sich seitdem mehrmals gefragt, ob ihre Arbeit wirklich einen Sinn hatte. Brian würde ihr das anmerken. Sie wollte nicht, dass er sich deshalb Hoffnungen machen würde, dass sie in Dublin blieb. Nicht, solange sie

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