Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mythos

Mythos

Titel: Mythos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus C Schulte von Drach
Vom Netzwerk:
das Urteil schon über Ungeborene gefällt wurde. „Ist denn Gott ungerecht?“ hatte Paulus gefragt. „Keineswegs“, so seine Antwort, die er mit einem Wort Gottes an Mose untermauerte: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“
    „Augustinus kam das immer noch ungerecht vor“, erklärte MacLoughlin. „Da aber Gott doch nicht ungerecht sein konnte, musste es einen guten Grund für die Sache geben. Er fand seine Erklärung erneut bei Paulus. Der hatte nämlich gesagt, dadurch, dass Adam vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte, hatten auch alle Nachfahren Adams ‚in Adam‘ gesündigt. Augustinus verstand das so, dass wir alle in den Unheilszustand dieser Erbsünde hineingeboren wurden und von vornherein verdammt waren. Aber war es dann nicht ungerecht, überhaupt jemanden zu lieben, wo doch niemand die Möglichkeit hatte, sich diese Liebe zu verdienen?“
    Nein, hatte Paulus erklärt und Augustinus hatte es begriffen, es war nicht ungerecht, wenn Gott einzelne Menschen liebte. Es war barmherzig. Nach welchen Kriterien Gott seine Gnadengeschenke allerdings verteilte, war seine Sache.
    „Aber Gott war offenbar genauso unzufrieden mit der Situation wie Augustinus“, fuhr MacLoughlin fort. „Deshalb wurde sein Sohn ein Mensch, ließ sich kreuzigen, nahm die Sünden auf sich und kehrte zurück von den Toten. Getauft wurde schon zu Jesu Zeiten. Aber seit Augustinus retten Sie Menschen durch die Taufe vom Zustand der Erbsünde. Menschen mussten sich seitdem zwar noch mit den Folgen von Adams Sünde herumschlagen – Neigung zum Bösen, eingeschränkte Erkenntnisfähigkeit und verschiedene andere miese Eigenschaften. Aber sie waren nicht mehr von vornherein verdammt, sondern bei der Geburt nur im Zustand eines Mangels an heiligmachender Gnade.“
    Kardinal Merdrignac hob die Hand an die Stirn. „Unser Verstand ist verdunkelt, wir sind egoistisch. Wir lassen uns vom Bösen verführen, wegen der Erbsünde. Deshalb brauchen wir den Glauben.“ Er runzelte die Brauen. „Wir reden hier von Versuchen, das, was wir aus den heiligen Schriften und von den Kirchenvätern erfahren haben, möglichst stimmig zu interpretieren. Sagen Sie doch einmal klar und deutlich: Worauf wollen Sie hinaus?“
    Der Kellner kam, um den Tisch abzuräumen. Sie bestellten eine neue Flasche Wein.
    MacLoughlin verschränkte die Arme vor der Brust. „Erst seit Augustinus ist der Kirche also klar, wieso Jesus eigentlich unsere Sünden auf sich genommen hat und wozu die Taufe dient. 400 Jahre lang war das demnach unklar. Und dann saß Augustinus auch noch einem Übersetzungsfehler der Paulusbriefe vom Griechischen ins Lateinische auf. Eigentlich hatte es bei Paulus geheißen, wegen Adams Fehler müssten alle sterben, weil alle sündigten. Nicht dass wir alle schon ‚in Adam‘ gesündif w‘ gesgt hätten und deshalb sündig auf die Welt kämen. Die Idee der Erbsünde ist ein Missverständnis.“
    Ein Schatten überflog das Gesicht des Kardinals. Langsam zog er die Mundwinkel hoch zu einem Lächeln, das die Augen nicht erreichte. „Sie sind spitzfindig. Schauen Sie sich doch um“, sagte er mit weit ausholender Geste. „Der Zustand der Menschheit und ihre Geschichte sind doch nicht zu leugnende Belege dafür, dass die Idee der Erbsünde richtig ist. Sie werden doch nicht bezweifeln, dass es das Böse gibt und dass es Macht über die Menschen hat.“
    „Ich kenne bessere Erklärungen für den Ursprung des Bösen.“
    Merdrignac verzog verdrießlich das Gesicht. „Sie meinen vielleicht, das Böse und das Gute seien als Prinzipien in uns angelegt, wie die antiken Denker meinten. Oder Sie fallen auf diese Atheisten herein, die behaupten, Gut und Böse hätten sich in der Evolution entwickelt.“
    Der Kardinal nahm einen Schluck Wein. Das Funkeln seiner Augen fand eine glitzernde Entsprechung im Kristall des Glases. „Das ist, wie der Papst zu Recht sagt, eine verzweifelte Sicht. Dann wäre das Böse unbesiegbar. Wenn nur noch der Egoismus zählt, werden wir jeden Fortschritt mit einer Flut von Bösem bezahlen.“ Er zeigte auf die Journalistin. „Dieses moderne Denken wird zu einem Ende aus Traurigkeit und Zynismus führen.“
    „Ihr Weg dagegen …“, begann MacLoughlin.
    „… kann uns vom Bösen heilen“, beendete Merdrignac ihren Satz. „Das Sein ist keine Mischung aus Gutem und Bösem. Es ist nur gut. Das Böse aber stammt nicht aus der Quelle des Seins, sondern aus der

Weitere Kostenlose Bücher