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Mythos

Mythos

Titel: Mythos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus C Schulte von Drach
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Problem. Schlimmer waren die Bilder, die in ihrem Kopf auftauchten wie falsch geschnittene Filmsequenzen, unvermittelt, unkontrollierbar und sich ständig wiederholend. Die Finsternis in ihrem Hotelzimmer. Die Silhouette des Diebes im Türrahmen. Arie van der Merwe, der mit dem Peruaner am Boden ringt. Dann, in kristallklarer Schärfe, das Geräusch der Wirbel, als das Genick des jungen Mannes unter dem Körper des Niederländers bricht. Der gestochen scharfe Rand des Schattens, den die Baseballmütze im Licht der Straßenlaterne ins Gesicht des toten Jungen schneidet, als sie ihm die Baseballmütze in die Stirn zieht.
    Und schließlich der Gedanke, der sie jedes Mal aufs Neue erschütterte, stärker als die Erfahrung mit dem Tod: Ihre Verfolger, von denen sie angenommen hatte, sie hätte sie in Sevilla hinter sich gelassen, säßen ihr vielleicht immer noch im Nacken.
    Sie schüttelte unwillig den Kopf und bohrte sich die Fingernägel in den Handballen. Es war nur Zufall gewesen, dass der Dieb es auf ihr Laptop abgesehen hatte. Nur Zufall, Zufall, Zufall.
    Sie versuchte, sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Sie dachte an York, der bereits in Moyobamba auf sie wartete, und malte sich aus, was er zu dem Berichtnd dem Be des Schweizer Landsknechtes sagen würde.
    Aber schon blitzten die Bilder wieder vor ihren Augen auf, egal, ob sie diese offen oder geschlossen hatte.
    Wieder fühlte sie einen leichten Schwindel, als stünde sie an der Kante zu einem Abgrund, und Wind blies ihr in den Nacken, dem sie sich entgegenstemmen musste, um nicht vornüber zu stürzen.
    Ihr Magen zog sich zusammen. Diesmal hatte das allerdings nichts mit ihren Erinnerungen zu tun. Die Schwerkraft drückte sie in den Ledersitz des Copiloten, als der Mann von Aero Cóndor Perú neben ihr die einmotorige Cessna 207 Turbo Stationair, in der sie saß, in den Steigflug zog. Verschiedene Zeiger auf dem Armaturenbrett vor ihrer Nase begannen zu tanzen. Hinter ihr unterbrachen d’Albret, Merdrignac, Ampuero und die Journalistin MacLoughlin ihr Gespräch und schauten aus dem Fenster.
    Von Lima aus waren sie entlang der Küste nach Norden geflogen, zur Rechten die grauen, staubigen Ausläufer der Anden, immer wieder unterbrochen von den grünen Flusstälern mit ihren Äckern und Wäldern.
    Jetzt änderten sie die Richtung, um die Berge zu überqueren. Der Pilot ließ die blauweiße Cessna weiter steigen. Sie flogen über die grünen Gipfel, steilen Schluchten und Täler der Cordillera Negra. Tilly hatte versucht, sich mit der Topografie des Landes ein wenig vertraut zu machen. Jaén schmiegte sich in einer Höhe von 740 Metern über dem Meeresspiegel in die nordöstlichen Ausläufer dieses Gebirgszuges. Im Osten verlief parallel zu der Bergkette die Cordillera Central, wo in einem der Täler die Stadt Chachapoyas hockte, während sich Moyobamba weiter im Osten, unterhalb der nördlichen Cordillera Oriental, befand.
    Doch die Karten, ihrer Natur nach zweidimensional, hatten keinen auch nur annähernd realistischen Eindruck vermittelt. Es war ein unglaublich wildes, raues Relief, das unter ihnen dahinzog, hier und dort von einem Schleier tief hängender Wolken verborgen. Es musste eine unglaubliche Strapaze für die Konquistadoren gewesen sein, zu Fuß oder auf Pferden durch diese Täler zu ziehen, Schluchten auf Hängebrücken zu überqueren, immer in Angst vor den Pfeilen und Speeren der Einheimischen.
    Tilly hatte das Gespräch zwischen den Geistlichen und der Journalistin bislang ignoriert. Jetzt beschloss sie, sich darauf zu konzentrieren. Vielleicht würde die Diskussion sie ja ablenken.
    „Wissen Sie“, sagte MacLoughlin jetzt zu Merdrignac, „ich habe mich etwas genauer mit dem Thema der wundersamen Heilungen beschäftigt. Genauer: mit den Heilswundern in Lourdes.“
    Merdrignac beugte sich neugierig vor. „Wenn etwas für Wunderheilungen steht, dann dieser Wallfahrtsort“, sagte er.
    „Bis jetzt“, begann MacLoughlin, „sind etwa 100 Millionen Menschen nach Lourdes gepilgert, viele davon in der Hoffnung auf Heilung von Krankheiten. Und bis heute hat die Kirche keine 70 Fälle als Wunder anerkannt.“
    „Sie sehen, wir sind sehr vorsichtig“, stellte Merdrignac zufrieden fest.
    „Interessant ist allerdings, was geheilt wurde“, sagte MacLoughlin. „Infektionskrankheiten, vor allem Tuberkulose. Vier Fälle von Multipler Sklerose. Drei Fälle von Krebs. Augenleiden, Bronchitis, Eiterflechten, Lähmungen. Aber keine einzige Krankheit

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