Na Servus! Wie ich lernte, die Bayern zu lieben
liegt im Dunkeln. Sogar die weiß-blauen Gardinen sind verschwunden. Neben seinem Klingelschild hat jemand «verzogen» auf ein kleines Stück Papier geschrieben und einen Pfeil gezeichnet, der auf eine Adresse in Dumbling weist.
Auf dem Rückweg zur S-Bahn passiere ich das Leimstüberl, und mir wird schwer ums Herz. Es ist, als wären Jahre vergangen, seit ich hier mit Knoll auf der Zecherbank saß und er mir das «Gschichtl» vom Watzentoni anvertraute – und mit ihm die Legende vom Watzendudeln. So heißt die Kunst, auf einem Haxenknochen die traurigsten Weisen zu spielen. Im Watzendudeln, raunte Knoll, vereinigten sich die Liebe zum Essen mit der Liebe zur Musik und zur Gemütlichkeit. Aber es sei keine leichte Sache. Es brauche bayerische Ruhe und Geduld. Musikalisches Talent sei hingegen nicht vonnöten. «Des is a Charaktermusi», hatte er gesagt. «Nur wer’s Watzendudeln versteht, versteht Bayern.»
Ach Knoll!
Der Geistesblitz trifft mich so plötzlich, dass mir der Atem stockt. Das ist es: Ich werde auf Knolls Hochzeit Watzendudeln! Vor Freude springe ich in die Luft. Und aus meinem tiefsten Innern bricht es heraus – ein lautes, kraftvolles Juchitzen.
WOS WEAD DES, WENNS FERTIG IS?
F lankiert von zwei Knödeln, ruht der gegrillte Schweineschenkel auf einem Bett aus Kraut und Soße. Ich sitze im Isarstüberl, das ich soeben zu meinem neuen Stammlokal auserkoren habe, sauge den Duft der Haxe ein und konzentriere mich. Zum ersten Mal versuche ich, den Schweineschenkel als Kunstwerk zu betrachten. Ich muss sein Geheimnis lüften, einen Blick hinter die Kruste werfen. Wie wohl Knolls Urahn damals auf die Idee gekommen ist, aus einer Haxe eine Haxenflöte zu basteln?
Ich stelle mir vor: Vor langer Zeit, als die Bayern zum Frühstück noch einen halben Ochsen mit einer 5-Liter-Maß Starkbier herunterspülten, sich beim Fingerhakeln die Gelenke herausrissen und die Kampfschreie der Jodler noch bis nach Italien gehört und gefürchtet waren, in jenen Tagen zog ein Mann namens Watzentoni durch das Land und spielte zum Tanz auf. Er war ein rauer Geselle, Sieger in zahllosen Raufereien, Spezl vom Räuber Hotzenplotz, aber zuerst einmal Trompeter in einer Tanzkapelle. Dummerweise hatte Watzentoni beim Schafkopfen sein Jagdhorn verzockt. Und wenn er nicht bald wieder aufspielte, wäre im Wirtshaus die Hölle los. Quasi als Henkersmahlzeit hatte ihm sein Kontrahent noch höhnisch eine Haxe spendiert – mit den Worten: «Spui do da drauf, Toni.» Da saß Watzentoni nun und starrte bockig auf die Henkershaxe. Irgendwann muss er sich gedacht haben: «Warum ned?»
Er zückte sein Klappmesser und bearbeitete die Haxe mit den präzisen Bewegungen des Handwerkers. Als er den Knochen freigelegt und ausgehöhlt hatte, brach er ein Stück Kruste vom Fleisch und setzte es als Mundstück ein. Behutsam blies der Watzentoni in das jungfräuliche Instrument. Ein langer, trauriger und dennoch wunderschöner Ton erfüllte das Wirtshaus. In den Herzen der Zuhörer erwachte das Gefühl, an einem Bergsee zu sitzen, einen Gipfel erklommen oder bei der Geburt eines Kalbs geholfen zu haben. Sie setzten ihre Krüge ab, ließen die Fäuste sinken und lauschten mit verträumten Gesichtern. So muss es damals gewesen sein. Und so wird es bald wieder sein.
Ich blinzele. Mal sehen. Mit beiden Händen ergreife ich die Haxe und führe den herausstehenden Knochen zum Mund. Aus einem Reflex heraus puste ich kräftig hinein. Braune Dunkelbiersoße spritzt auf die Tischdecke. «Wos wead des, wenns fertig is?», fragt die Bedienung mit unverhohlener Geringschätzung.
«Wissen Sie, ich möchte den Knochen für meinen Hund mitnehmen. Der nimmt es sehr genau mit dem Essen.»
«Is hoid aa a Preiß, ge?»
«Ein Münsterländer.»
Nach längerem Nachdenken komme ich zu dem Schluss, dass eine Watzendudel nur wie jedes andere Holzblasinstrument funktionieren kann: Der Luftstrom muss auf eine Anblaskante (lateinisch Labium , also Lippe) treffen, die ihn zum Schwingen bringt. Das Labium der Watzendudel kann tatsächlich nur ein Stückchen Kruste sein.
Von nun an verbringe ich meine Abende nicht mehr beim doppelten Lutz in der Folterkammer, sondern lieber beim Haxenessen im Isarstüberl. Die Knochen lasse ich mir einpacken («für meinen Münsterländer»). Daheim, beim Aushöhlen, bricht das letzte meiner Berliner Besteckmesser ab. Also kaufe ich mir ein original bayerisches Klappmesser mit Hirschhorngriff. Ein echter Mann braucht echtes
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