Nach all diesen Jahren
… Sie gelobte sich, dass er nie mehr diese Macht über sie haben sollte.
„Gut“, sagte sie mit fester Stimme. „Dann komm eben morgen. Du lernst Oliver kennen, dann besprechen wir die Besuchszeiten … und dann kann jeder von uns beiden sein Leben weiterleben.“
3. KAPITEL
Als es am nächsten Nachmittag klingelte, hoffte Sarah, ihre Schwäche vom Vortag überwunden zu haben und Raoul diesmal mit mehr Gelassenheit zu begegnen. Mit anderen Worten: Es galt, Prioritäten zu setzen. Und Priorität Nummer eins war natürlich Oliver. Sie wiederholte wie ein Mantra, wie wundervoll es sei, dass er jetzt seinen Vater kennenlernen würde. Der natürlich jederzeit für ihn da wäre … wie auch immer das dann konkret aussehen mochte. Dies festzulegen stand ganz oben auf ihrer Agenda. Daraus ergab sich natürlich Priorität Nummer zwei: Sie musste unbedingt einen kühlen Kopf bewahren! Sich in alten Erinnerungen und sentimentalen Gefühlen zu verlieren, war definitiv verboten.
Sie öffnete die Tür und stand einem leger gekleideten Raoul gegenüber.
„Oliver ist im Wohnzimmer und schaut Zeichentrickfilme“, sagte sie rasch, um jede Unterhaltung im Keim zu ersticken.
Raoul bemerkte ihre Nervosität sofort. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen und hielt krampfhaft die Klinke der Tür in der Hand, als wollte sie ihm diese gleich wieder vor der Nase zuschlagen. Demonstrativ blickte er ihr über die
Schulter.
„Lässt du mich freiwillig rein, oder muss ich dich erst überreden?“
„Ich meine wir sollten vielleicht erst besprechen, wie … wie wir das alles händeln wollen.“
„Warum?“
„Ich habe nachgedacht, Raoul …“
„Sehr gefährlich!“
„Ich glaube, dass es wahrscheinlich am besten ist, wenn wir beide so wenig wie möglich miteinander zu tun haben. Es geht hier um Oliver und nicht um uns.“
„Hast du ihm schon gesagt, wer ich bin?“
Es brachte sie etwas aus dem Konzept, wie schnell Raoul das Thema abhakte, über das sie Stunden nachgedacht hatte. Habe ich womöglich gehofft, er würde mein „Nein“ nicht akzeptieren? überlegte sie.
„Noch nicht. Ich halte es für besser, wenn ihr euch erst einmal kennenlernt.“
„Wie du meinst. Ich muss nur noch mal schnell zum Auto und ein paar Sachen holen.“
„Sachen? Was für Sachen?“
Er deutete mit dem Kinn zu seinem Wagen, der am Straßenrand parkte. „Geh schon mal rein. Ich komme gleich nach.“
„Du hast doch hoffentlich keine Geschenke mitgebracht?“
„Komisch, irgendwie hatte ich vermutet, dass du etwas dagegen haben wirst.“
„Es ist einfach völlig unangebracht, gleich beim ersten Mal mit einer Ladung Geschenke aufzutauchen.“
„Ich habe eben viel aufzuholen.“
Sarah gab sich geschlagen. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, überlegte sie. Zuneigung kann man zwar nicht kaufen, aber ein kleines Geschenk half vielleicht, das Eis zu brechen.
Oliver baute gerade einen Turm aus Bauklötzen, während im Hintergrund sein Lieblingscomic lief, als Raoul im Wohnzimmer erschien. Im Arm hielt er ein riesiges Paket und in der Hand eine vollgestopfte Einkaufstüte.
Im Kofferraum lagen noch mehr Geschenke, aber um sie zu holen, müsste er noch einmal gehen. Jetzt war er richtig froh, nicht alles hereingebracht zu haben, denn Oliver schien sichtlich verwirrt. Und Sarah … ihr stand buchstäblich der Mund offen. Auf ihrem Gesicht las er blankes Entsetzen. Warum sagt sie denn nichts? Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte sich Raoul absolut hilflos. Er zwang sich zu einem Lächeln.
„Oliver. Das ist … das ist Raoul. Ein Freund von mir. Willst du ihm nicht die Hand geben?“
Als Antwort flüchtete sich Oliver auf ihren Schoß. Raoul blieb nichts anderes übrig, als sich vor die beiden zu kauern und die Geschenke abzuladen.
Als Erstes packte er den riesigen Karton aus, der einen Rennwagen mit Fernsteuerung enthielt. Danach folgten die Päckchen aus der Tüte. Spiele, Bücher und Stofftiere bedeckten bald den Boden.
„Ausschließlich pädagogisch wertvolles Spielzeug“, versicherte er der zunehmend entgeisterten Sarah. „Zumindest hat man das im Spielzeugladen behauptet.“ Er beugte sich zu Oliver und fragte ihn, ob er nicht das Auto ausprobieren wollte. Die einzige Reaktion war ein heftiges Kopfschütteln. Auch die anderen Geschenke ernteten rigorose Ablehnung. In seiner Verzweiflung fragte Raoul ihn nach dem Kindergarten, seinen Freunden und Lieblingssendungen, aber Oliver sah ihn nur mit großen Augen an.
Nachdem
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